Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
Dorthin begab sich mit einigen seiner Getreuen auch Kossuth, der sich als Kammerdiener eines polnischen Grafen verkleidet hatte und fortan nicht müde wurde, Görgey des Verrats zu bezichtigen. Als letzte ungarische Festung gab nach Aushandlung günstiger Bedingungen am 27. September Komorn den Kampf gegen die Österreicher auf. Die Zahl der 1848/49 gefallenen Soldaten wird auf ungarischer wie auf österreichischer Seite auf jeweils 50.000 geschätzt. Die Russen verzeichneten 543 Gefallene, 1670 Verwundete, dazu 1100 Opfer der Cholera.
Dem Krieg folgte die Vergeltung. Die Österreicher unter General von Haynau waren entschlossen, den Ungarn die Liebe zur Unabhängigkeit ein für allemal auszutreiben. Die Kriegsgerichte verhängten drakonische Strafen: von zahllosen Todesurteilen über lebenslängliche und langjährige Kerkerhaft bis zu Zwangsarbeit in Strafkompanien. Insgesamt sollen 120 Todesurteile vollstreckt worden sein, wozu noch einige standrechtliche Erschießungen von Freischärlern kamen. Dem früheren ungarischen Ministerpräsidenten Graf Batthyány warf das österreichische Kriegsgericht vor, er habe durch sein Verhalten zur Ermordung des vom Kaiser eingesetzten Oberkommandierenden in Ungarn, des Grafen Lamberg, im September 1848, und des österreichischen Kriegsministers, des Grafen Latour, im folgenden Monat, beigetragen. Batthyány wurde zum Tode verurteilt und, obwohl die Richter eine Begnadigung zu lebenslänglicher Kerkerhaft empfohlen hatten, auf Betreiben Schwarzenbergs und Haynaus am 6. Oktober 1849, nachdem ein Selbstmordversuch gescheitert war, hingerichtet. Seine letzten Worte waren ein dreisprachiger Befehl an das Erschießungskommando, ein österreichisches Jägerbataillon: «Allez, Jäger, éljen a haza!» (Vorwärts, Jäger, es lebe das Vaterland!)
Der Freiheitskampf der Ungarn hatte das Habsburgerreich tiefer getroffen als der der Italiener. In Wien empfand man den Besitz Ungarns als die wichtigste Grundlage des österreichischen Großmachtstatus und das Streben der Magyaren nach Unabhängigkeit folglich als Hochverrat. Einen Verzicht auf die Lombardei und Venetien hätte Österreich noch überleben können, den auf Ungarn nicht. Daraus vor allem erklärt sich, weshalb die Österreicher gegen die Ungarn ungleich härter vorgingen als gegen die Italiener. Mit der Niederlage der Magyaren kam nicht nur die Revolution in Mitteleuropa zum Abschluß. Als am 27. September 1849 die Festung Komorn kapitulierte, fiel die letzte Bastion der europäischen Freiheitsbewegungen, die im Januar 1848 in Palermo und im Monat darauf in Paris ihren Ausgang genommen hatte.[ 93 ]
Wandel ohne Revolution: Nord- und Nordwesteuropa
Von den europäischen Revolutionen von 1848/49 gingen Wirkungen auch auf Länder aus, in denen es zu keinem Umsturzversuch kam. In Madrid brach Ende März 1848 eine Studentenrebellion aus, die von königlichen Truppen rasch niedergeschlagen wurde. Dasselbe Schicksal erlitten einige kleinere republikanische Putschversuche, an denen sich mancherorts auch Offiziere beteiligten. Zu den Wirkungen der europäischen Revolution in Spanien gehört die Gründung der Demokratischen Partei im Frühjahr 1849, die sich in ihrem Programm scharf von der Regierung der «Moderados» unter dem General Ramón María Narváez wie vom konservativen Liberalismus überhaupt abgrenzte, zum Prinzip der Volkssouveränität bekannte und dabei auf das Beispiel der Vereinigten Staaten von Amerika berief.
In Belgien, das 1830 auf durchaus revolutionäre Weise entstanden war, genügte das Beispiel der französischen Februarrevolution, um die regierenden Liberalen zu einer Reihe von Zugeständnissen an die Demokraten zu veranlassen. Das wichtigste war die bereits im März 1848 beschlossene Senkung des bislang gestaffelten Wahlzensus auf einen landeseinheitlichen Mindestsatz. Das bedeutete zwar noch lange nicht die Einführung des allgemeinen gleichen Wahlrechts, aber doch eine Steigerung der kleinen Zahl der Wahlberechtigten um 70 Prozent.
Im nördlichen Nachbarland, den Niederlanden, konnten die reformfreundlichen Kräfte unter dem Eindruck der revolutionären Ereignisse in Frankreich, Deutschland und Italien im Oktober 1848 Änderungen des überaus konservativen Grundgesetzes vom 24. August 1815 durchsetzen, die es erlauben, von einer neuen, liberalen Verfassung zu sprechen. Fortan galten die Grundsätze der Direktwahl der zweiten Kammer und der vollen juristischen Ministerverantwortlichkeit; die beiden Kammern
Weitere Kostenlose Bücher