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Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Titel: Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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großen Wert darauf, ihre Ziele möglichst ohne Anwendung von Gewalt zu erreichen, so daß die Unterschiede zwischen ihnen und den Confederates weiterhin sichtbar blieben.
    An einer Massendemonstration, zu der die Chartisten ihre Anhänger nach Kennington Common in London gerufen hatten, nahmen am 10. April 1848 um die 150.000 Menschen, fast durchweg Arbeiter, teil. O’Connor gelang es, durch eine große Rede Zusammenstöße und Ausschreitungen zu verhindern. Das Treffen von Kennington Common war eine machtvolle Kundgebung für die Versammlungsfreiheit, aber auch nicht mehr als das. Der Plan, dem Unterhaus ein Volksbegehren mit den Forderungen der Chartisten zu unterbreiten, mußte aufgegeben werden, weil die Zahl der Unterzeichner weit hinter den Angaben der Chartisten zurücklieb und zudem viele Unterschriften fingiert, gefälscht und schlicht obszön waren.
    In den Augen der bürgerlichen Öffentlichkeit wurde die Demonstration von Kennington Common völlig in den Schatten gestellt durch eine gleichzeitige, von den Behörden organisierte, von der Polizei diskret geschützte Kundgebung für Freiheit, Recht und Ordnung. An ihr beteiligten sich etwa 85.000 Menschen, die zuvor ihre Bereitschaft bekundet hatten, die bestehende Ordnung wenn nötig als Hilfspolizisten zu verteidigen. Die Arbeiter unter ihnen waren allerdings zumeist von ihren Arbeitgebern zur Teilnahme verpflichtet worden, weshalb sie anschließend mit nachdrücklicher Unterstützung durch die Regierung Russell auf vollem Ausgleich für den entgangenen Lohn bestanden. Außenminister Palmerston nannte den 10. April 1848 stolz ein «Waterloo of peace and order». In der Tat versetzte das England der Mittelschichten dem Chartismus an jenem Tag einen Schlag, von dem dieser sich nie mehr erholen sollte. Die Versammlung von Kennington Common sollte seine letzte große Kundgebung sein.
    Die Schwäche des Chartismus lag darin, daß er nur Teile der Arbeiterschaft, und zwar eher die handwerklich geprägten als die modernen industriellen Arbeiter, hinter sich gebracht hatte und nicht imstande gewesen war, diesen Mangel durch Einbrüche in die Mittelschichten auszugleichen. Das Gros der Chartisten unter O’Connor vollzog auf Grund der Erfahrungen von 1848 eine Wende zum pragmatischen schrittweisen Vorgehen auf dem Boden des parlamentarischen Systems und vorzugsweise in der Form von Arbeit in den Gewerkschaften. Die zeitweiligen Verbündeten der Chartisten, die irischen Radikalen, hingegen wollten auf gewaltsamen Straßenprotest auch weiterhin nicht verzichten. Das Erbe der Confederates trat in den fünfziger Jahren der nationalistische Geheimbund der «Fenier» an, der in Irland, Nordamerika und Großbritannien auf eine unabhängige Republik hinarbeitete und Gewalt als Mittel der Politik ausdrücklich bejahte. Weniger radikal war die 1850 gegründete Irish Tenant Right League, eine Bewegung der kleinen Pächter, die niedrige Pachtzinsen, rechtlich abgesicherte Pachtverträge und «Home Rule», also weitestgehende Selbstverwaltung für Irland, forderte. Beide Organisationen trugen dazu bei, daß die irische Frage im Bewußtsein der europäischen und der amerikanischen Öffentlichkeit lebendig blieb und von der Tagesordnung der britischen Politik nicht mehr abgesetzt werden konnte.
    In England erleichterte die allmähliche Vergewerkschaftung der Arbeiterbewegung die politische Zusammenarbeit zwischen dieser und den bürgerlichen Radikalen. In zwei wichtigen Fragen vertraten die beiden Lager zwar nicht dieselben, aber doch ähnliche Positionen: in der Solidarität mit den unterdrückten Freiheitsbewegungen in Europa und dem Eintreten für eine demokratische Reform des Wahlrechts. Daß die Forderungen von 1848 nicht in Vergessenheit gerieten, dafür sorgten schon die vielen nach England emigrierten Revolutionäre von Kossuth über Mazzini und Louis Blanc bis zu Marx und Engels. Der Kampf um die Erweiterung des Wahlrechts zum Unterhaus, fortan ein Hauptthema der britischen Innenpolitik, lag auf der Linie friedlicher Veränderungen, die Großbritannien mit der Parlamentsreform von 1832, der Abschaffung der Kornzölle im Jahre 1846 und der Zehnstundenbill von 1847 eingeschlagen hatte. Weil es diese Tradition gab und weil sie sich bewährt hatte, gehörte Großbritannien zu den Ländern, in denen es 1848 zu keiner revolutionären Erschütterung kam. Für die meisten Briten lag darum nichts näher als die Überzeugung, daß es richtig war, auf dem Weg fortzuschreiten, den

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