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Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Titel: Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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Die Idee der «einen und unteilbaren Nation» wurde zur Fiktion, wenn man sie auf ein unabhängiges Ungarn anwandte. An diesem inneren Widerspruch, und nicht nur an der russischen Intervention, ist die ungarische Revolution gescheitert – und mit ihr der erste Versuch, die westliche Idee des homogenen Nationalstaates im multiethnischen Ostmitteleuropa zu verwirklichen.
    Die Habsburgtreue der meisten slawischen Völker hatte viel mit der Lösung oder besser Teillösung einer sozialen Frage zu tun: der Beseitigung der Feudallasten, des «Robot», durch das Kaiserliche Patent vom 17. April 1848. Die «Bauernbefreiung» bedeutete nicht, daß den Bauern zusätzliches Land zur Bewirtschaftung überlassen wurde. Dennoch kam der Erlaß gerade noch rechtzeitig: Er verhinderte eine Revolutionierung der Landbevölkerung, die überall im Habsburgerreich die mit Abstand größte Gruppe der Gesellschaft bildete. Die Bauern waren um 1848 von nationalen Parolen noch kaum erfaßt worden. Ein nationales Bewußtsein hatte sich nicht zufällig dort am weitesten verbreitet, wo es, wie namentlich in Böhmen, ein starkes Bürgertum gab und die Industrialisierung bereits begonnen hatte. Bei der tiefen Verbundenheit der meisten Slawen mit dem österreichischen Kaiser mußte es also nicht bleiben. Sie konnte durch die industrielle Entwicklung ebenso in Frage gestellt werden wie durch eine unkluge Politik, die die Selbstachtung der slawischen Völker verletzte. 1848/49 wurde das Habsburgerreich letztlich durch seine Rückständigkeit gerettet. Es war dieser Befund, der den Widerruf der oktroyierten Verfassung am 31. Dezember 1851 in sich logisch erscheinen ließ: Die Wiener Führung ging offenbar davon aus, daß die Zukunft Österreichs am besten durch die Rückkehr zum Absolutismus gesichert werden konnte.
    Die andere soziale Frage, die des Proletariats, spielte im Habsburgerreich 1848 eine geringere Rolle als im industriell weiter fortgeschrittenen Deutschland und in Frankreich, wo sozialistische und kommunistische Ideen in der Arbeiterschaft mehr Widerhall gefunden hatten als irgendwo sonst in Europa. Nur in Frankreich nahm die Revolution den Charakter des Klassenkampfes zwischen Bourgeoisie und Proletariat an, wobei selbst in Paris von einer scharfen Trennlinie zwischen Arbeitern und Handwerksgesellen noch keine Rede sein konnte.
    Im Februar 1848 hatte die bürgerliche Linke Frankreichs noch geglaubt, durch die Einrichtung von Nationalwerkstätten der sozialen Revolution den Wind aus den Segeln nehmen zu können. Tatsächlich trat die gegenteilige Wirkung ein: Das ebenso kostspielige wie unproduktive Experiment führte dazu, daß immer mehr Arbeitslose aus der Provinz in die Hauptstadt strömten und dort das Lager derer verstärkten, die alles Heil von einer proletarischen Revolution erwarteten. Die Auflösung der Nationalwerkstätten war nach Lage der Dinge unvermeidbar, aber im Juni 1848 konnte sie nicht mehr erfolgen, ohne die Gefahr des Bürgerkriegs heraufzubeschwören.
    Die Junischlacht, die mit der blutigen Niederlage des Pariser Proletariats endete, war der entscheidende Wendepunkt in der Geschichte der zweiten französischen Republik. Aus dem Riß, der durch die Gesellschaft ging, wurde ein Abgrund. Ihn zu überbrücken war das große Versprechen, mit dem sich der politisch talentierteste Bewerber um das Amt des Präsidenten der Republik, Louis-Napoleon, den Franzosen im Frühjahr 1848 präsentierte und das wesentlich zu seinem Erfolg beitrug. Damit begann jene Verselbständigung der Exekutivgewalt, die vier Jahre später in der Errichtung des Zweiten Kaiserreiches ihren vorläufigen Abschluß fand. Sieht man einmal von der Habsburgermonarchie und vom Königreich beider Sizilien ab, gab es Anfang der 1850er Jahre westlich des russischen Zarenreiches wohl kein Land, in dem es um die politische Freiheit so schlecht bestellt war wie im Mutterland der bürgerlichen Revolutionen.
    Karl Marx nahm die französische Entwicklung zum Anlaß, grundsätzlich über die Ursachen des Scheiterns der Revolution und die Folgerungen nachzudenken, die es daraus zu ziehen galt. Das Ergebnis seiner Überlegungen war die bereits zitierte Schrift «Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850». Er brachte sie 1850 in London zu Papier, wohin er sich nach seiner Ausweisung erst aus Preußen, dann aus Frankreich im Spätsommer 1849 begeben hatte. Die wichtigste Lektion des Revolutionsjahres bestand für Marx darin, daß das Proletariat die einmal

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