Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
Generalgouverneur, dem Vertreter der britischen Krone, auf Lebenszeit ernannt. Anders als in England waren Staat und Kirche nach amerikanischem Vorbild strikt getrennt, die religiösen Gruppen gleichberechtigt und das öffentliche Schulwesen dem kirchlichen Einfluß entzogen.
Die Besiedlung von Ontario hatte wesentlich später als die von Quebec begonnen, verstärkt erst nach 1830, und zwar mit Hilfe von Kanal- und Eisenbahnbau, finanziert durch britisches und amerikanisches Kapital. An der «frontier» selbst gaben wie in den USA freie Siedler den Ton an, und wie dort ging auch hier von der Grenze eine religiöse Bewegung im Sinne der Freikirchen und besonders der Methodisten aus. Um 1850 war die Besiedlung Ontarios im wesentlichen abgeschlossen. Nach Norden hin schob der Kanadische Schild, die Landmasse um die Hudson-Bai mit ihren ausgedehnten, in die subarktische Tundra übergehenden Sumpf-, Seen- und Waldgebieten, weiteren Siedlungen einen Riegel vor. Die Präriegebiete des kanadischen Westens wurden erst im späten 19. Jahrhundert durch den Bau der (vom Staat mitfinanzierten und 1885 fertiggestellten) Pacific Railway erschlossen und in der Folgezeit von Einwanderern aus Europa und den Vereinigten Staaten besiedelt.
Kämpfe mit Indianerstämmen gab es auch an der kanadischen «frontier». In Gestalt der 1873 geschaffenen berittenen Northwest Mounted Police war der Staat im kanadischen Westen aber sehr viel stärker präsent als im «Wilden Westen» der USA. Die «Mounties» wurden auch nicht so sehr gegen die Indianer als vielmehr zum Schutz der Reservate eingesetzt, die die kanadische Regierung den Ureinwohnern zugewiesen hatte. Dem Zwang zur Anpassung an die Sprache und Kultur ihrer europäisch geprägten Umwelt waren die Indianer freilich auch dort ausgesetzt (was ebenfalls für die andere der beiden «first Nations», die Inuit im hohen Norden Kanadas, galt): Dafür sorgten schon die staatlichen oder vom Staat finanzierten kirchlichen Schulen.
Bei allen Entsprechungen, die es in anderen Ländern gab, war die amerikanische «frontier» in mehrfacher Hinsicht etwas historisch Singuläres: Nirgendwo sonst waren Expansion und Siedlung so sehr das Werk einer ganzen Gesellschaft; in keinem anderen Land der Welt wurde das Leben der ganzen Nation so stark und anhaltend durch Wirklichkeit und Mythos der «frontier» geprägt wie hier; in keinem anderen Fall war der Zusammenhang von räumlicher Ausdehnung und Erweiterung der politischen Freiheitsrechte so eindeutig wie in den Vereinigten Staaten.
Um die Mitte des 19. Jahrhunderts blickten die Menschen in vielen Ländern Europas auf gescheiterte Revolutionen zurück, die allesamt Kämpfe um mehr Freiheit gewesen waren. Amerika hatte, als die europäischen Revolutionen von 1848 ausbrachen, gerade seinen Krieg gegen Mexiko und durch den Friedensschluß ein riesiges Territorium gewonnen. Gescheiterte Revolutionen und daraus erwachsene politische Selbstzweifel des Bürgertums auf der einen, anhaltende Expansion und ein entsprechendes Selbstvertrauen der Nation auf der anderen Seite des Nordatlantiks: Der alte und der neue Westen traten unter höchst unterschiedlichen Voraussetzungen in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts ein.[ 100 ]
4. Nationalstaaten und Imperien: 1850–1914
Materialismus versus Idealismus: Die geistige Wende in der Mitte des 19. Jahrhunderts
Ein liberales Berliner Blatt, die «National-Zeitung», sprach im Jahre 1856 aus, was so oder ähnlich viele fortschrittlich gesinnte Bürger im Europa jener Zeit empfunden haben dürften. «Im Gefühl der Unbefriedigung über verfehlte ideale Zwecke, in der Trostlosigkeit über mißlungene ideale Bestrebungen hat die intelligente und materielle Kraft des Volkes sich auf das Gebiet des Erwerbs konzentriert, und die Gegenwart ist Zeugnis dessen, was die konzentrierte Kraft der Völker vermag, wenn Intelligenz und körperliche Arbeit vereint zu einem Zweck hinwirken. Was die idealistischen Bestrebungen vergebens versuchten, ist dem Materialismus in wenigen Monaten gelungen: die Umgestaltung der gesamten Lebensverhältnisse, die Verschiebung der Schwerpunkte und der Machtverhältnisse in den Organismus des gesellschaftlichen Zusammenlebens, die Beherrschung des Sinnens und Trachtens fast in allen Köpfen und die Anspannung einer nie gekannten Energie, eine förmliche Sucht nach rastloser Tätigkeit in allen Nerven, Muskeln und Sehnen.»
Das Lob des Materialismus hatte nicht zuletzt materielle Gründe: Die
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