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Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Titel: Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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näher. Und doch durfte Turin hoffen, zumindest Frankreich auf seine Seite ziehen zu können, wenn sich künftig eine Gelegenheit bot, die Apenninenhalbinsel von der Vorherrschaft des Hauses Habsburg zu befreien. Eine andere Siegermacht, die Türkei, hatte zwar nur mit Hilfe der Westmächte überlebt, war aber dank ihrer Rettung nach 1856 mehr denn je ein Teil des europäischen Mächtekonzerts.
    Von großer Bedeutung war der Ausgang des Krimkrieges auch für die beiden Großmächte, die sich nicht aktiv an ihm beteiligt hatten. Österreich mußte nach 1856 den Preis seiner prowestlichen Politik bezahlen: Es wurde von Rußland fortan nicht mehr als befreundete, sondern eher als feindlich gesinnte Großmacht wahrgenommen und entsprechend behandelt. Davon profitierte Preußen, dessen anfangs schwächlich wirkende Neutralität im nachhinein geradezu klar und konsequent erschien: Für das Zarenreich war der Hohenzollernstaat nach 1856 diejenige Großmacht, mit der es die besten, weil einvernehmlichsten Beziehungen unterhielt. Doch es gab auch noch andere Nutznießer der Schwächung Österreichs. Seit Wien sich des russischen Rückhalts nicht mehr gewiß sein konnte, ging es milder als zuvor mit den beiden Völkern um, die sich 1848/49 am hartnäckigsten der Herrschaft der Habsburger widersetzt hatten: den Italienern in Lombardo-Venetien und den Magyaren im ungarischen Teil des Vielvölkerreiches.
    Durch den Pariser Frieden von 1856 wurde die Wiener Friedensordnung von 1815 überwunden, und mit dem Wiener System endete auch das, was von der Heiligen Allianz übrig geblieben war: das gelegentliche Zusammenwirken der drei konservativen Ostmächte Rußland, Österreich und Preußen. Der Krimkrieg revolutionierte das europäische Staatensystem in höherem Maß, als die Ereignisse von 1848/49 die europäische Gesellschaft revolutioniert hatten. Der Krieg der Jahre 1853 bis 1856 hatte Auswirkungen, die den weiteren Gang der Geschichte prägten. Cavour hätte vermutlich 1859 nicht im Bunde mit Frankreich einen erfolgreichen Krieg um die Einigung Italiens führen können, wenn Sardinien-Piemont 1855 nicht zum Verbündeten der Westmächte geworden wäre. Die Entfremdung zwischen Österreich und Rußland, das Ergebnis der Wiener Politik während des Krimkrieges, half Bismarck, in den Jahren zwischen 1866 und 1871 durch zwei Kriege, erst gegen Österreich, dann gegen Frankreich, die deutsche Frage im preußischen Sinn zu lösen.
    Rußland sah sich durch die Erfahrung der Niederlage veranlaßt, seine äußere Expansion in fernöstliche Richtung zu lenken und im Innern durch die Abschaffung der Leibeigenschaft im Jahre 1861 der Gesellschaft jenen Modernisierungsschub zu geben, ohne den das Reich nach der Überzeugung Alexanders II., des «Zar-Reformers», als Großmacht nicht überleben konnte. Eine ähnliche Einschätzung der eigenen Zukunftschancen brachte die Türkei dazu, verstärkt auf jene Politik innerer Reformen zu setzen, die Sultan Mahmud II., der Begründer der Erneuerungsbewegung des «Tanzimat», 1839/40 mit der Gewährung von Garantien für die Sicherheit des Lebens, der Ehre und des Eigentums aller Untertanen, der Einführung einer öffentlichen Gerichtsbarkeit und eines an westlichen Vorbildern orientierten Strafgesetzbuches eingeleitet hatte. Im Februar 1856 folgte unter Mahmuds Sohn Abdulmecid I. das Edikt «Hatthümayan», das Christen und Juden die gleichen bürgerlichen Rechte wie den Muslimen einräumte. Fortan durften Juden wie Christen in den «Millets», den nichtmuslimischen Glaubensgemeinschaften, eigene Schulen errichten, die freilich unter staatlicher Aufsicht standen. Außerdem wurden die Folter abgeschafft, das Münzwesen reformiert und die Errichtung von Banken erlaubt. Auf jeweils unterschiedliche Weise hatte der Krimkrieg also eine teilweise Verwestlichung von zwei nichtwestlichen Gesellschaften, der russischen und der türkischen, zur Folge.
    Die «orientalische Frage» blieb Europa auch nach dem Pariser Frieden erhalten. Das lag einmal an der anhaltenden Schwäche des Osmanischen Reiches und zum anderen an den fortdauernden Interessengegensätzen zwischen Istanbul und St. Petersburg sowie zwischen St. Petersburg und Wien im Hinblick auf den Balkan. Die «orientalische Frage» war indes nicht der einzige Grund, weshalb man von Anfang an bezweifeln mußte, ob die internationale Ordnung von 1856 so lange Bestand haben würde wie das System von 1815, also rund vier Jahrzehnte lang. Der eigentliche Sieger

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