Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
nicht minder reaktionär als das Zarenreich, das sich seit langem dem Königreich beider Sizilien eng verbunden fühlte.
Zur gleichen Zeit gab es aber auch noch ein anderes, ein liberales Italien: das Königreich Sardinien-Piemont, das 1849 unter König Viktor Emanuel II. zum wichtigsten Zufluchtsort der freiheitlichen Kräfte aus den anderen Teilen der Apenninenhalbinsel geworden war. Ministerpräsident war seit dem November 1852 Graf Camillo di Cavour, der Führer der neugeschaffenen Mehrheitspartei, die aus einer «Vermählung» (connubio) der Liberalen und der gemäßigten Demokraten hervorgegangen war. Mit der Ernennung Cavours verwandelte der König die konstitutionelle faktisch in eine parlamentarische Monarchie. Als der neue Regierungschef 1853 den verschärften Reaktionskurs der Österreicher in Lombardo-Venetien zum Anlaß nahm, die diplomatischen Beziehungen mit Wien abzubrechen, fand das den Beifall nahezu der gesamten Linken. Im Jahr darauf durfte Garibaldi aus seinem amerikanischen Exil nach Piemont zurückkehren. Die Teilnahme am Krimkrieg versetzte das norditalienische Königreich zwar noch nicht in die Lage, mit Unterstützung der Westmächte oder zumindest Frankreichs die österreichische Herrschaft in Oberitalien zu beenden. Für Turin sollte sich die Pariser Friedenskonferenz von 1856 dennoch als großer Gewinn erweisen: Cavour hatte Piemont zu einem internationalen Rang verholfen, der dem einer Großmacht nahekam. Er durfte darauf hoffen, daß sich seine bisherige, geradezu demonstrative Unterstützung Napoleons III. politisch doch noch auszahlen würde – in Gestalt eines gemeinsamen Vorgehens gegen Österreich.
Napoleon III. hatte seine innenpolitische Machtstellung in den ersten Jahren des Second Empire weiter gefestigt. Durch den forcierten, über öffentliche Anleihen finanzierten Ausbau des Eisenbahnnetzes schritt die Industrialisierung Frankreichs kräftig voran; Paris gewann durch die radikale Stadtsanierung des Präfekten Baron de Haussmann immer mehr die Züge einer imperialen Metropole; die zweite Weltausstellung, die 1855 in Paris stattfand, gab dem zweiten Kaiserreich die willkommene Gelegenheit, sich als moderne Wirtschaftsmacht und den Kaiser der Franzosen als Erneuerer der Gesellschaft zu präsentieren. Aber Napoleon III. wäre kein Bonaparte gewesen, wenn er sich damit begnügt hätte, dem immer noch landwirtschaftlich geprägten Frankreich den Weg in die Industriegesellschaft der Zukunft zu weisen. Der militärische Ruhm, den seine Armee im Krimkrieg an ihre Fahnen geheftet hatte, bewies aus seiner Sicht, daß dem eigenen Prestige nichts so dienlich war wie der erfolgreiche Einsatz militärischer Macht. Eben deshalb kam ihm das italienische Streben nach Unabhängigkeit gelegen. Österreich hatte sich während des Krimkrieges außenpolitisch isoliert. Wenn Napoleon III. sich in die Tradition seines kaiserlichen Onkels stellte und den Italienern dabei half, die Fremdherrschaft abzuschütteln, hatte er nach Lage der Dinge gute Aussichten, der Geschichte der Großmacht Frankreich ein weiteres glorreiches Kapitel hinzuzufügen.
Daß die Italiener ihre nationalen Bestrebungen nicht länger vertagen wollten, wurde im Juli 1857 deutlich: Liberale Patrioten um Giorgio Pallavicino, der einst lange Jahre in österreichischer Haft verbracht hatte, gründeten einen Verband zur Förderung der Befreiung und Einigung Italiens, die Società Nazionale. Die Vereinigung war ein Zusammenschluß bürgerlicher Honoratioren unterschiedlicher politischer Richtungen und, im Unterschied zu Mazzini und seinen Gefolgsleuten, bereit, Cavours Politik einschließlich seiner engen Zusammenarbeit mit Napoleon III. propagandistisch zu unterstützen, notfalls aber auch öffentlichen Druck auf den leitenden Minister des Königreichs Sardinien-Piemont auszuüben. Für die wechselseitige Abstimmung sollte der Sekretär der Società Nazionale, der aus Sizilien emigrierte Historiker Giuseppe La Farina, sorgen, der schon seit längerem in enger Verbindung mit Cavour stand.
Ob Napoleon III. tatsächlich gewillt war, sich für die Sache Italiens einzusetzen, erschien freilich vielen Patrioten zweifelhaft. Manche warfen dem Kaiser der Franzosen sogar Verrat an seinem ehemaligen Alliierten im Krimkrieg vor. Auch Felice Orsini, ein früherer Anhänger Mazzinis aus der Romagna, dachte so. Am 14. Januar 1858 verübte er vor der Pariser Oper ein Bombenattentat auf Napoleon III. Der Kaiser selbst blieb unverletzt. Der
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