Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
Preußen aufhorchen. Prinz Wilhelm wandte sich gegen jeden Mißbrauch der Religion für politische Zwecke; er versprach eine neue Schulpolitik, da Preußen mit seinen höheren Lehranstalten an der Spitze geistiger Intelligenz stehen müsse, und kündigte eine Außenpolitik an, die gutes Einvernehmen mit den anderen Großmächten suchen, aber sich fremdem Einfluß nicht hingeben werde. Zu einem geflügelten Wort wurde die Forderung, in Deutschland müsse Preußen «moralische Eroberungen» machen, und zwar durch eine «weise Gesetzgebung bei sich, durch Hebung aller sittlichen Elemente und durch Ergreifung von Einigungselementen», wie der Zollverein eines sei, der aber der Reform bedürfe. «Die Welt muß wissen, daß Preußen überall das Recht zu schützen bereit ist»: So lautete ein anderer, in der Folgezeit häufig zitierter Satz. Nicht zu überhören war freilich auch die Ankündigung einer Heeresreform. Der Prinzregent umschrieb dieses ihm besonders wichtige Vorhaben mit den Worten, im Wehrwesen seien mancherlei Änderungen erforderlich, damit Preußen in den politischen Auseinandersetzungen der Großmächte ein schwerwiegendes Gewicht in die Waagschale legen könne.
Das öffentliche Echo auf die Ansprache des Prinzregenten war durchwegs freundlich – nicht nur in Preußen, sondern auch im Süden Deutschlands, wo man dem «Kartätschenprinzen» von 1849 fortschrittliche Absichten am wenigsten zugetraut hatte. Rasch machte das Wort von der «Neuen Ära» die Runde, die jetzt in Preußen begonnen habe. Im Staat der Hohenzollern selbst hatten die wahlberechtigten Bürger noch im November 1858 Gelegenheit, durch Stimmabgabe bei den Wahlen zum Haus der Abgeordneten ihre Meinung zum Kurswechsel in Berlin zu äußern. Erstmals seit der Einführung des Dreiklassenwahlrechts im Mai 1849 beteiligten sich jetzt auch viele Demokraten wieder am Urnengang. Eigene Kandidaten stellte die entschiedene Linke vorsichtshalber noch nicht auf. Sie begnügte sich fürs erste mit der Anerkennung des Rechtsbodens der redigierten Verfassung und der Ankündigung, man werde die neue Regierung unterstützen, wenn sie die Landverfassung gewissenhaft handhabe und auf gesetzlichem Weg in freisinnigem Geist fortbilde.
Die eindeutigen Wahlsieger waren die gemäßigten Liberalen der unterschiedlichen Richtungen. Sie waren sich der prekären Stellung des Prinzregenten und des von ihm berufenen Ministeriums bewußt und darum nicht geneigt, das Kabinett durch allzu forsches Auftreten in Verlegenheit zu bringen. «Nur nicht drängeln!» war das Motto der stärksten Gruppierung in der zweiten Kammer, der «Fraktion Vincke», benannt nach ihrem Vorsitzenden, dem Freiherrn Georg von Vincke, der im Paulskirchenparlament der am weitesten rechts stehenden Fraktion, dem «Café Milani», angehört hatte.
Der Wahl folgten Umbesetzungen in einigen wichtigen Positionen des Regierungsapparates. Mehrere prominente Vertreter des bisherigen Regierungskurses wurden durch Anhänger der «Wochenblattpartei» ersetzt. Das galt auch für den Posten des preußischen Gesandten beim Bundestag. Dieses Amt erhielt ein gemäßigt liberaler Diplomat, Karl von Usedom. Der Vorgänger, Otto von Bismarck, empfand seine Ablösung und Versetzung nach St. Petersburg als Kaltstellung, und tatsächlich war er am Zarenhof dem Zentrum der preußischen Staatsmacht ferner als in seiner Frankfurter Zeit. Aber in der Hierarchie der Gesandtenposten stand St. Petersburg ganz weit oben. Nach einem ausführlichen Gespräch mit dem Prinzregenten Ende Januar 1859 konnte Bismarck durchaus hoffen, daß Wilhelm ihn, wenn die Situation es erforderte, in eine noch einflußreichere politische Stellung berufen würde.[ 5 ]
Ein Nationalstaat entsteht: Die Einigung Italiens
Eine Reaktionszeit erlebten nach 1850 nicht nur die Staaten des Deutschen Bundes, sondern auch Teile Italiens. Im habsburgischen Lombardo-Venetien, wo es mehrfach zu Aufstandsversuchen von Anhängern Mazzinis kam (so 1851 in Mantua und zwei Jahre später in Mailand), herrschte bis 1856 der Belagerungszustand. österreichische Truppen standen während der fünfziger Jahre auch in den Herzogtümern Parma und Modena, im Großherzogtum Toskana und im Norden des Kirchenstaates. Auf besonders krasse und abschreckende Form wurde die vorrevolutionäre Ordnung unter dem Bourbonen Ferdinand II. im Königreich beider Sizilien wiederhergestellt: Neapel galt unter den Liberalen Europas als das rückschrittlichste Regime des Okzidents –
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