Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
machen. Aus dieser Perspektive war der Krieg ein Krieg um die nationale Einigung, und das hieß auch: um die Schaffung jenes Maßes an gesellschaftlicher Homogenität, das erforderlich war, wenn die Union nach außen als einheitliche Nation auftreten wollte.
Moralisch war die Union spätestens seit dem Augenblick im Recht, als sie die Befreiung der Sklaven zu ihrem Kriegsziel erhob. Die Sklaverei widersprach zutiefst den Werten, auf die sich die Gründerväter der Vereinigten Staaten berufen hatten, auch wenn viele von ihnen Sklavenhalter waren und Sklaven nicht als Menschen im Sinne der Unabhängigkeitserklärung betrachteten. Doch das Bekenntnis zu den unveräußerlichen Menschenrechten hatte seine eigene normative Logik, die über den historischen Horizont der Akteure von 1776 hinauswies. Auf die Menschenrechte konnten sich auch jene berufen, denen sie vorenthalten wurden, und sie hatten Verbündete unter den Weißen, die das Gründungsversprechen der Vereinigten Staaten von Amerika ernst nahmen und nicht zu einer Gründungslüge verkommen lassen wollten.
Das nicht zu tun, war freilich nicht nur ein moralisches Anliegen. Wenn die USA eine weltpolitische Rolle spielen wollten, konnten sie es sich nicht leisten, «half slave and half free» zu sein. Sie mußten einig und glaubwürdig sein in der Verteidigung der Freiheitsideale, denen Amerika seine Anziehungskraft und sein Ansehen verdankte. Hätte diese Überzeugung 1865 nicht obsiegt, wären die Vereinigten Staaten nie zu der Macht geworden, die sie in der Folgezeit wurden. Der Wirkung nach war der Bürgerkrieg jene «Second American Revolution», als welche ihn die Historiker Charles und Mary Beard 1927 bezeichnet haben. Nur weil dieser Krieg mit einem Sieg der Union über die Sezession endete und die Union seit Lincolns zweiter Inaugurationsrede vom 4. März 1865 als unauflöslich galt, konnte Amerika im 20. Jahrhundert zur Führungsmacht des Westens beiderseits des Nordatlantiks aufsteigen und entscheidend dazu beitragen, daß dieser Westen ein Bewußtsein von dem entwickelte, was ihm historisch gemeinsam war und ihn trotz allem Trennenden zu einer Einheit machte.
Der Mann, dem es die Union mehr als jedem anderen zu verdanken hatte, daß sie nicht auseinanderfiel, erlebte das definitive Ende des Bürgerkriegs in Gestalt der Kapitulation der letzten konföderativen Armee am 26. April 1865 nicht mehr: Am 14. April schoß der Schauspieler John Wilkes Booth, der einer Verschwörergruppe fanatischer Südstaatler angehörte, in einem Theater in Washington aus nächster Nähe auf Abraham Lincoln und verletzte ihn so schwer, daß er am nächsten Morgen starb. Das Attentat zeigte, wie tief der Haß war, der dem siegreichen Norden aus den Reihen der ehemaligen Konföderierten entgegenschlug. Die Ermordung im Augenblick des Sieges machte aus dem 16. Präsidenten einen Märtyrer, der im Kampf für die Einheit und Freiheit Amerikas gefallen war. Für beides hatte Lincoln gestanden: für die Freiheit der Schwarzen im Süden freilich erst, als ihm bewußt geworden war, daß die Einheit ohne diese Freiheit nicht wiederhergestellt werden konnte. Bei allen taktischen Winkelzügen, zu denen er auch genötigt war, bei allen Widersprüchen in seinem Denken und Handeln war Lincoln ein Mann von außerordentlicher Gradlinigkeit und Überzeugungstreue. Er war der größte Staatsmann, den Amerika im 19. Jahrhundert hervorgebracht hat.
Für die Zeit nach dem Krieg hatte Lincoln eine Politik der Aussöhnung und der raschen Wiedereingliederung («reconstruction») der Südstaaten beabsichtigt und in den von Unionstruppen besetzten Staaten, sehr zum Mißfallen der radikaleren Republikaner, bereits eingeleitet. Sein Nachfolger, der bisherige Vizepräsident Andrew Johnson, ein geborener Südstaatler aus North Carolina, war ein Anwalt der Verständigung und des Ausgleichs zwischen den Weißen in Nord und Süd und das auf eine Art und Weise, die so sehr auf Kosten der ehemaligen schwarzen Sklaven ging, daß es darüber zu schweren Konflikten zwischen dem Präsidenten und der republikanischen Mehrheit in beiden Häusern des Kongresses und schließlich 1868 zu einem Amtsenthebungsverfahren («impeachment») kam. Es scheiterte nur daran, daß im Senat eine Stimme zur erforderlichen Zweidrittelmehrheit fehlte.
Die Befreiung der Sklaven, die Lincoln während des Krieges proklamiert hatte, stand bis zu dessen Ende für die meisten von ihnen nur auf dem Papier. Um eine verläßliche
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