Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
wissen wollten, machte im nämlichen Jahr 1867 der Nationalökonom und politische Schriftsteller Walter Bagehot in seinem berühmten Buch «The English Constitution» deutlich. Darin zählte er Großbritannien zu den «ehrerbietigen Nationen» (deferential nations), bei denen der zahlreiche, weniger weise Teil der Bevölkerung wünsche, vom weniger zahlreichen, aber weiseren Teil regiert zu werden. Der größere Teil danke in solchen Nationen zugunsten der Elite ab und sei damit einverstanden, jedem zu gehorchen, dem die Elite ihr Vertrauen schenke. «Eine ehrerbietige Gemeinschaft ist selbst dann, wenn ihre niedrigsten Klassen unintelligent sind, mehr für eine Kabinettsregierung geeignet als ein demokratisches Land, gleich welcher Art, weil es mehr Sinn für politische Exzellenz hat … Ein Leben voller Arbeit, eine unvollständige Erziehung, eine eintönige Beschäftigung, ein Werdegang, bei dem die Hände viel, das Urteilsvermögen wenig gebraucht werden, kann nicht so viel bewegliches Denken und anwendbare Intelligenz hervorbringen wie ein Leben der Muße, eine alte Kultur, eine vielfältige Erfahrung, eine Existenz, durch die das Urteilsvermögen unaufhörlich geübt und ständig verbessert wird. Ein Land mit respektvollen Armen mag weniger glücklicher sein als eines, wo es keine Armen gibt, die respektvoll sein können. Aber es ist bei weitem besser geeignet für das beste – Regierungssystem.»
Eine ehrerbietige Gesellschaft, in der die Masse des Volkes unwissend war, befand sich Bagehot zufolge in einem Zustand instabilen Gleichgewichts. Wenn man in einer solchen Gesellschaft den unwissenden Massen gestattete, zu regieren, konnte man sich genausogut von der Ehrerbietung ganz verabschieden. «Ihre Demagogen werden es ihr (der unwissenden Masse, H.A.W.) eintrichtern, ihre Zeitungen es ihr immer wieder erzählen, daß die Herrschaft der derzeitigen Dynastie, der des Volkes, besser ist als die der gestürzten Dynastie, der der Aristokratie … Niemand wird ihr sagen, daß die gebildete Minderheit, die sie entthront hat, besser oder weiser regiert hat, als sie selbst regiert. Eine Demokratie wird niemals, es sei denn nach einer schrecklichen Katastrophe, das zurückgeben, was ihr einmal zugestanden wurde. Denn wenn sie das täte, würde sie eine in ihr angelegte Minderwertigkeit einräumen, wovon sie niemals, außer im Fall eines nahezu unerträglichen Unglücks, überzeugt werden könnte.»
Sechs Jahre vor Bagehot hatte der als radikaler Liberaler geltende John Stuart Mill in seinen 1861 erschienenen «Considerations on Representative Government» auf die Tendenz zu kollektiver Mittelmäßigkeit hingewiesen, die dem repräsentativen Regierungssystem wie der modernen Zivilisation überhaupt innewohne und durch jede Wahlrechtserweiterung noch verstärkt werde, «da diese Maßnahmen darauf hinauslaufen, die Staatsgewalt zunehmend in die Hände der Klassen zu legen, die weit unter dem optimalen Bildungsstandard der Gesellschaft stehen». Gleichwohl könne «kein Wahlrecht auf die Dauer befriedigen, das irgendeine Person oder Klasse kurzerhand ausschließt, das das Recht zu wählen, nicht allen Menschen, die es beanspruchen, zugesteht». Ausnahmen wollte Mill nur bei Personen machen, die nicht lesen und nicht schreiben konnten und gar keine, nicht einmal indirekte Steuern zahlten. Um den moralischen Einfluß der Minderheit der Gebildeten zu stärken, die als einzige die Bedürfnisse einer demokratischen Mehrheit ergänzen und korrigieren könnten, forderte Mill ein Pluralstimmrecht für Angehörige freier Berufe und Akademiker. Dieser Vorbehalt galt auch für die Frauen, denen er das allgemeine, aber eben nur ein abgestuftes Wahlrecht gewährt sehen wollte.
Eine Vorkehrung gegen die Massenherrschaft lag nach Mills Überzeugung aber bereits im Prinzip der Repräsentation selbst, für das er dem englischen Volk eine besondere Begabung bescheinigte. «Da … in einem Gemeinwesen, das mehr als eine kleine Stadt umfaßt, die persönliche Mitarbeit aller … unmöglich ist, folgt daraus notwendig, daß ein repräsentatives Regierungssystem der ideale Typus der vollkommenen Regierungsform ist … Ein repräsentatives Regierungssystem bedeutet, daß das Volk als Ganzes oder doch zu einem beträchtlichen Teil durch periodisch gewählte Vertreter die in jedem Verfassungssystem notwendige oberste Kontrollgewalt ausübt. Diese oberste Gewalt muß ungeteilt in den Händen des Volkes liegen. Es muß jede Regierungshandlung
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