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Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Titel: Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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konservativen Minderheitsregierung der einzig gangbare Ausweg aus der Krise. Das neue Kabinett war kaum im Amt, als es eine erste außerparlamentarische Kraftprobe zu bestehen hatte: die schweren mehrtätigen Unruhen, die Ende Juli 1866 ausbrachen, als Tausende aufgebrachter Arbeiter und anderer «kleiner Leute» im Londoner Hyde Park für das allgemeine gleiche Wahlrecht demonstrierten.
    Man hat lange geglaubt, daß Disraeli erst nach den Tumulten zur Einsicht in die Unvermeidbarkeit einer Wahlrechtsreform gelangt sei. Tatsächlich hatte sich der faktische Führer der Tories schon kurz vor den «Hyde Park riots», vermutlich am 21. Juli, entschieden, einem neuen Wahlgesetz den Weg zu ebnen. Entgegen einer später weit verbreiteten Meinung war es auch nicht Disraelis Absicht, durch eine großzügige Erweiterung des Wahlrechts die Arbeiter für die Konservativen zu gewinnen und sich selbst als erster «Tory democrat» zu präsentieren. Disraeli ging es zunächst vor allem darum, die konservativen ländlichen Wahlkreise gegen die liberalen, städtischen abzuschirmen und die Erhöhung der Zahl der Wahlberechtigten durch Zusatzstimmen für Wähler der höheren Steuerklassen auszugleichen. «Demokratisch» wirkte lediglich das Prinzip des «household»-Wahlrechts, das die Konservativen aber dadurch einschränkten, daß nach der Gesetzesvorlage vom 11. Februar 1867 nur diejenigen männlichen Haushaltsvorstände das Wahlrecht erhalten sollten, die selbst Armensteuer bezahlten und diese nicht durch den Vermieter einsammeln ließen («compounding» nannte man ein solches Sammelverfahren). Diese Beschränkung fiel erst, als Disraeli am 17. Mai 1867, elf Tage nach einer neuerlichen Massendemonstration der Reform League im Hyde Park, dem Antrag des liberalen Abgeordneten Grosvenor Hodgkinson auf Streichung des «compounding» zustimmte und damit zur Annahme verhalf. Den Gedanken der Pluralstimmen hatten die Tories schon vorher aufgegeben, weil er sich als praktisch nicht durchführbar erwies.
    Auf dem Weg bis zum Inkrafttreten des Gesetzes am 15. August 1867 wurden auch andere Vorschläge verworfen: so Gladstones Antrag, ein allgemeines Minimum von 5 Pfund Sterling als Voraussetzung für das Wahlrecht festzulegen, der im Unterhaus am 13. April 1867 in einer Kampfabstimmung mit der knappen Mehrheit von 21 Stimmen zu Fall gebracht wurde, und der Antrag des zeitweiligen liberalen Abgeordneten John Stuart Mill auf Einführung des Frauenstimmrechts, der mit 196 gegen 73 Stimmen der Ablehnung verfiel. Disraelis taktische Absicht war es von Anfang an, die Spaltung innerhalb der Liberalen Partei zu vertiefen und die Parteiführung um Gladstone nachhaltig zu schwächen. Das erste Ziel erreichte er, das zweite nicht. «Für das, was er 1867 getan hat», schreibt sein Biograph Robert Blake, «verdient er, in die Geschichte einzugehen als genialer Politiker, überlegener Improvisator und Parlamentarier von unübertroffenem Geschick, aber nicht als weitsichtiger Staatsmann, Tory-Demokrat oder Erzieher seiner Partei.»
    Das Gesetz über die Neueinteilung der Wahlkreise, der Redistribution Act, dessen Entwurf die Regierung Derby noch vor der Verabschiedung der Wahlrechtsreform, des Representation of the People Act, einbrachte, verminderte das parlamentarische Gewicht der kleineren Boroughs und erhöhte die Zahl der Vertreter der großen Städte, hob die Privilegierung der ländlichen Regionen aber nicht auf. Die Wahlrechtsreform selbst, die nur für England und Wales galt, aber durch entsprechende Gesetze für Schottland und Irland ergänzt wurde, erhöhte die Zahl der Wahlberechtigten im Vereinigten Königreich von etwa 1,36 Millionen auf rund 2,48 Millionen oder um 82,5 Prozent. Wahlberechtigt waren nun auch viele städtische, aber kaum ländliche Arbeiter. Vom Wahlrecht ausgeschlossen blieb das «Residuum» der städtischen Armen, die über keine eigene Wohnung verfügten, und der Landbewohner, die weniger als 10 Pfund an jährlichen Steuerleistungen erbrachten. Die Wahlrechtsreform von 1867 machte Großbritannien demokratischer, als es zuvor gewesen war. Vom allgemeinen gleichen Wahlrecht aber war das Mutterland der parlamentarischen Demokratie noch weit entfernt, als es 35 Jahre nach der letzten Wahlrechtsreform sein politisches System erneut den gesellschaftlichen Veränderungen im Zeichen der fortschreitenden Industrialisierung anpaßte.
    Daß auch kluge Beobachter um jene Zeit von einem unaufhaltsamen Zug in Richtung Demokratie nichts

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