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Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Titel: Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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nach Belieben kontrollieren können. Die eigentliche Aufgabe einer Repräsentativversammlung besteht aber nicht darin, über Regierungsangelegenheiten selbst zu entscheiden, sondern dafür zu sorgen, daß darüber die geeigneten Persönlichkeiten entscheiden.» Eine repräsentative Regierung mußte sich stets bewußt sein, daß sie nicht bloß die Mehrheit des Volkes, sondern das ganze zu gleichen Teilen repräsentierte Volk vertrat. «Die angemessene Vertretung der Minderheit ist eine wesentliche Forderung der Demokratie. Wird sie nicht erfüllt, so ist keine echte Demokratie, sondern nur ein Zerrbild möglich.»
    Der Schutz der Minderheit vor der Mehrheit: Das war das liberale Anliegen Mills, an dem er 1867 als Wahlrechtsreformer so unbeirrt festhielt wie 1859, dem Todesjahr seines langjährigen Briefpartners Alexis de Tocqueville, als er seine berühmteste Schrift, den Essay «On Liberty», veröffentlichte. Schutz gegen die Tyrannei der Obrigkeit sei nicht genug, hieß es dort. «Es muß auch Schutz gegen die Tyrannei der herrschenden Meinung und des herrschenden Gefühls (protection against the tyranny of prevailing opinion and feeling) geben, Schutz gegen die Tendenz einer Gesellschaft, mit anderen als bürgerlichen Strafen ihre eigenen Ideen und Praktiken als Verhaltensregeln denen aufzuerlegen, die davon abweichen …» Der einzige Zweck, für den legitimerweise Macht über irgendein Mitglied einer zivilisierten Gesellschaft gegen dessen Willen ausgeübt werden könne, sei es, Schaden für andere abzuwenden (to prevent harm to others). Hinter diesen politischen Maximen stand die Einsicht, «daß die Menschheit nicht unfehlbar war, daß ihre Wahrheiten meistens nur Halbwahrheiten waren, daß eine einheitliche Meinung nicht wünschbar war, es sei denn, daß sie aus dem vollständigsten und freiesten Vergleich gegensätzlicher Meinungen hervorging, und daß Meinungsvielfalt solange kein übel, sondern ein Gut ist, als die Menschheit nicht in höherem Maß als jetzt fähig ist, alle Seiten der Wahrheit anzuerkennen.»
    Während Bagehot die Demokratie ablehnte (und dabei vor allem die Vereinigten Staaten von Amerika vor Augen hatte), kam Mill ähnlich wie Tocqueville zu dem Ergebnis, daß die gesellschaftliche Entwicklung auf eine Demokratie hinauslief. Weil dem so war, galt es, die Gefahren zu bannen, die in dieser Staatsform angelegt waren. Neben Zusatzstimmen für Männer und Frauen von höherer Bildung erschien ihm eine von Klasseninteressen und Vorurteilen der Masse weithin freie zweite Kammer ein geeignetes Mittel, dem Übergewicht der unteren Schicht vorzubeugen. Gemessen an den gesellschaftlichen Verhältnissen im Großbritannien der 1860er Jahre, sprach aus solchen Vorschlägen ein durchaus rückwärts gewandtes Verständnis von Politik. Auf festem Boden aber stand Mill, wenn er die direkte Demokratie in den Bereich der Illusion und die Mehrheit in ihre Schranken verwies. Es waren die angelsächsischen Erfahrungen mit «representative government», die Mill und andere entschiedene Liberale dazu brachten, die Wahlrechtsreform von 1867 als das zu begreifen, was sie war: die Weiterentwicklung des überkommenen Regierungssystems durch schrittweise Anpassung an den gesellschaftlichen Wandel im Gefolge der Industrialisierung.
    Ungeachtet der Niederlage, die ihm Disraeli, aber auch Politiker in der eigenen Partei in der Wahlrechtsfrage zugefügt hatten, sah Gladstone die Dinge nicht viel anders als Mill. Ihm, dem Führer der Liberalen, und nicht dem Tory Disraeli, der Anfang 1868 nach dem Rücktritt von Lord Derby das Amt des Premierministers übernahm, hielten die Massen den Schritt in Richtung Demokratie zugute, den das Land mit der Reform von 1867 getan hatte. Aus den Unterhauswahlen von 1868 gingen die Liberalen mit über 100 Mandaten Vorsprung vor den Konservativen als Sieger hervor. Es waren vor allem Wähler aus den Reihen der neuen Wahlberechtigten, die der Partei Gladstones zu diesem Triumph verhalfen.
    Als Premierminister wandte sich Gladstone sogleich den ungelösten irischen Problemen zu, die durch zwei blutige Aktionen des Geheimbundes der Fenier mit dem Zweck der Gefangenenbefreiung wieder auf die Tagesordnung gelangt waren. 1869 verabschiedete das Unterhaus ein von der Regierung vorgelegtes Gesetz zur Entstaatlichung (disestablishment) der anglikanischen Kirche in Irland, die bisher zwangsweise von den irischen Katholiken finanziert worden war. 1870 folgte der Irish Land Act, der den Grundherren

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