Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Titel: Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
Vom Netzwerk:
beschlossene Regelung sollte ab 1872 aber solange gelten, bis das in Aussicht genommene Bundesgesetz in Kraft trat. Die Regierung durfte die Militärausgaben zwar nur noch entsprechend dem Haushaltsgesetz tätigen, der Gesetzgeber mußte aber seinerseits beim Militäretat von der gesetzlich festgelegten Heeresorganisation ausgehen.
    Die Vertagung der Machtfrage entsprach der Logik des Indemnitätsgesetzes, mit dem Bismarck 1866 den preußischen Verfassungskonflikt beendet hatte. Die Exekutive sicherte sich durch die Verfassung des Norddeutschen Bundes Befugnisse, die weit größer waren als jene, die die Reichsverfassung von 1849 der vollziehenden Gewalt eingeräumt hatte. Durch die militärische Kommandogewalt des Königs von Preußen, deren Ausübung nicht der ministeriellen Gegenzeichnung bedurfte, ragte ein Stück Absolutismus in die Verfassungswirklichkeit von 1867 hinein. Eine breite Mehrheit der Abgeordneten hielt die Verfassung dennoch für einen großen Schritt nach vorn: Am 16. April 1867 nahm der Konstituierende Reichstag die überarbeitete Verfassung mit 230 gegen 53 Stimmen an. Die Nein-Stimmen kamen überwiegend aus den Reihen der Katholiken, der sächsischen und der «welfischen», das heißt hannoveranischen Partikularisten und der polnischen Abgeordneten. Auch August Bebel stimmte mit Nein. Am 1. Juli trat die Verfassung in Kraft. Knapp zwei Wochen später, am 14. Juli 1867, ernannte König Wilhelm I. als Inhaber der Bundespräsidialgewalt den preußischen Ministerpräsidenten Graf Otto von Bismarck zum Bundeskanzler des Norddeutschen Bundes.
    Der Norddeutsche Bund war ein konstitutioneller Bundesstaat, aber konstitutionell und föderalistisch in den Grenzen, die durch die inneren und äußeren Erfolge des alten Preußen im Jahre 1866 gezogen waren. Das Hauptmerkmal der Verfassung des Norddeutschen Bundes, die im wesentlichen die des Deutschen Reiches von 1871 vorwegnahm, war ein Widerspruch: der Gegensatz zwischen einem demokratischen Wahlrecht und einem nichtparlamentarischen Regierungssystem. Die Einführung des allgemeinen gleichen Wahlrechts, dem der Konstituierende Reichstag das Prinzip der geheimen Stimmabgabe hinzufügte, bedeutete einen abrupten Demokratisierungsschub und hob sich damit scharf vom graduellen Demokratisierungsprozeß Großbritanniens ab. England war 1867 seit langem ein parlamentarisch regiertes Land, Preußen seit knapp zwei Jahrzehnten eine konstitutionelle Monarchie ohne parlamentarisch verantwortliche Regierung. Im Fall Englands ließ sich leicht vorhersagen, daß auf die Wahlrechtsreform von 1867 weitere folgen würden. Die Frage, was aus dem preußisch-deutschen System werden würde, wenn es im demokratisch legitimierten Reichstag keine Mehrheit für die Regierung gab, ließ nur eine Antwort zu: In diesem Fall war ein neuer Verfassungskonflikt zu erwarten. Die Verfassung von 1867 beruhte mithin auf einem dilatorischen Formelkompromiß im Sinne des Staatsrechtlers Carl Schmitt: Die eigentlichen Streitpunkte blieben unentschieden.
    Der Konstituierung des Norddeutschen Bundes folgte am 7. Juli 1867 der Abschluß eines neuen Zollvereinsvertrags auf dem Fuß. Er sah die Schaffung eines Zollbundesrats und eines Zollparlaments vor, die dem Deutschen Zollverein einen bundesstaatsähnlichen Charakter gaben. Der Vertrag trat am 1. Januar 1867 in Kraft; die Wahlen zum Zollparlament fanden im Februar und März statt. Wer sich davon einen Auftrieb für den Gedanken der nationalen Einheit erhofft hatte, wurde enttäuscht. Südlich des Mains waren die Nationalliberalen nur in Hessen-Darmstadt und Baden erfolgreich. In Bayern siegten die Kandidaten der katholisch-konservativen Patriotenpartei, in Württemberg die der föderalistischen Demokraten. Von den 85 Abgeordneten aus Süddeutschland waren 50 unterschiedlichen Richtungen der partikularistischen Schutzzöllner und nur 26 dem freihändlerischen und kleindeutschen Lager zuzurechnen. Die Mainlinie schien sich seit 1866 im Bewußtsein vieler Süddeutscher verfestigt zu haben: ein Befund, der wesentlich dazu beitrug, daß Bismarck im Frühjahr 1867 nicht ernsthaft daran dachte, die Krise um Luxemburg für einen nationalen Einigungskrieg gegen Frankreich zu nutzen.
    Doch nicht nur in Süddeutschland formierten sich Kräfte, die in entschiedener Opposition zur Politik Bismarcks standen. Im August 1869 schlossen sich in Eisenach die Führer der sächsischen Volkspartei, August Bebel und Wilhelm Liebknecht, mit einem Teil der Lassalleaner

Weitere Kostenlose Bücher