Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
die Möglichkeit nahm, die Pächter ohne jede Entschädigung von dem von ihnen bewirtschafteten Land zu vertreiben, an der sonstigen Ausbeutung der letzteren durch die ersteren aber nicht viel änderte. Das tat erst ein weiteres, ebenfalls unter einer Regierung Gladstone verabschiedetes Landgesetz von 1881, das die irischen Pächter zu freien Eigentümern machte und gegen Wucherzinsen schützte.
Die Reformen der ersten Regierungsperiode William Gladstones beschränkten sich nicht auf Irland. 1870 trat ein Erziehungsgesetz in Kraft, das die allgemeine Schulpflicht einführte und die Errichtung zahlreicher neuer, konfessionell nicht gebundener Schulen zur Folge hatte. (Bisher hatte nur rund die Hälfte aller Kinder elementaren Unterricht an Schulen genossen, die meist von der anglikanischen Kirche gegründet worden waren und vom Staat finanziell unterstützt wurden.) Der University Test Act von 1872 verpflichtete die Universitäten Oxford und Cambridge, akademische Grade unabhängig vom religiösen Bekenntnis der Kandidaten zu vergeben, und leistete damit einen wichtigen Beitrag zur Gleichberechtigung von Nonkonformisten, Katholiken und Juden. Im gleichen Jahr 1872 wurde die geheime Stimmabgabe bei Wahlen eingeführt, was sich in England freilich sehr viel weniger auswirkte als in Irland, wo die Pächter fortan nicht mehr der politischen Kontrolle durch die Grundherren unterworfen waren. 1873 folgte das Judikaturgesetz, das die Rechtssysteme des Common Law und des Equity Law, des ungeschriebenen Billigkeitsrechts, einander anglich und als Abschluß des Instanzenweges einen obersten Gerichtshof schuf.
Auch im Bereich der Streitkräfte sah sich die Regierung Gladstone zu einschneidenden Neuerungen genötigt. Die von Kriegsminister Edward Cardwell vorgelegte Heeresreform von 1871 zog späte Lehren aus den Schwächen des britischen Militärs, die im Krimkrieg zutage getreten waren: Der Kauf von Offiziersstellen wurde abgeschafft und so auch mittellosen Männern die Beförderung ermöglicht; die Dienstzeit der angeworbenen Söldner wurde verkürzt, die Reserve verstärkt. Eine allgemeine Wehrpflicht und einen Generalstab aber gab es weiterhin nicht; die Armeeführung blieb mit dem Könighaus eng verbunden – ein Vorrecht der Krone, auf dem die Queen Victoria ebenso wie ihre Vorgänger bestand und das auch von den Liberalen respektiert wurde. Als nach den Unterhauswahlen von 1874 die Tories unter Disraeli wieder an die Macht kamen, dachten sie nicht daran, die Reformen der Regierung Gladstone rückgängig zu machen. Vielmehr versuchten sie, sich der Öffentlichkeit als die Partei zu präsentieren, die gleichermaßen für den Ausbau der britischen Weltmachtstellung wie für die innenpolitische Erneuerung des Vereinigten Königreiches stand.[ 12 ]
Vom Norddeutschen Bund zur Reichsgründung: Deutschland 1867–1871
Im gleichen Jahr, in dem Großbritannien sein Wahlrecht reformierte, wurde in Deutschland der Reichstag des Norddeutschen Bundes gewählt – nach einem Wahlrecht, das sehr viel demokratischer war als das englische: Es war das von der deutschen Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche am 27. März 1849 verabschiedete allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht für Männer, die das 25. Lebensjahr vollendet hatten. Bismarck versprach sich von diesem Coup, den er bereits in seinem Bundesreformantrag vom 9. April 1866 den deutschen Staaten und der deutschen Öffentlichkeit zur Kenntnis gebracht hatte, zu Recht eine nachhaltige Wirkung: Wenn der Hohenzollernstaat das fortschrittlichste Wahlrecht der Zeit zu seinem Programm erhob, überholte er die Liberalen gewissermaßen von links. Selbst süddeutschen Demokraten mochte es dann schwerfallen, den Gedanken der preußischen Führung weiterhin rundherum abzulehnen. Bismarck war zudem überzeugt, daß die Monarchie im einfachen Volk über einen stärkeren Anhang verfügte als beim gebildeten und besitzenden Bürgertum: eine Einschätzung, aus der heraus er dem preußischen Dreiklassenwahlrecht noch nie etwas hatte abgewinnen können.
Die Wahlen zum Konstituierenden Norddeutschen Reichstag fanden am 12. Februar 1867 in sämtlichen 17 Staaten statt, die sich im August 1866 zum Norddeutschen Bund zusammengeschlossen hatten. Den größten Erfolg errang die neugegründete Nationalliberale Partei, die auf 80 der insgesamt 297 Mandate kam, während die linksliberale Fortschrittspartei lediglich 19 Sitze erhielt. Die zweitstärkste Fraktion stellten mit 59 Abgeordneten
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