Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
um Wilhelm Bracke zur Sozialdemokratischen Arbeiterpartei zusammen. Im Jahr darauf stellte sich die neugegründete Partei auf den Boden der Baseler Beschlüsse der Internationalen Arbeiter-Assoziation. Darin forderten die Anhänger von Marx und Engels die sofortige Vergesellschaftung von Grund und Boden, also eine radikale Veränderung, ja die Abschaffung der bestehenden Gesellschaftsordnung. Die Trennung der proletarischen von der kleinbürgerlichen Demokratie war damit endgültig vollzogen: ein Vorgang, der die weitere Entwicklung des deutschen Parteiwesens nachhaltig prägen sollte.
Die Politik des Norddeutschen Bundes vermochte aber weder der eine noch der andere Flügel der demokratischen Kräfte zu beeinflussen. Aus der ersten «ordentlichen» Reichstagswahl vom August 1867 waren die Nationalliberalen, die Fortschrittspartei und die Konservativen gestärkt hervorgegangen. Die meisten Gesetze der folgenden drei Jahre trugen eine liberale Handschrift: so das Gesetz über die Freizügigkeit von 1867, das Gesetz über die Vereinheitlichung von Maßen und Gewichten von 1868, das Gesetz über die Gleichberechtigung der Konfessionen in bürgerlicher und staatsbürgerlicher Beziehung von 1869, das die Judenemanzipation abschloß, und die Gewerbeordnung vom gleichen Jahr, die die Freiheit von Markt und Gewerbe erweiterte, auf Drängen der Konservativen aber den Landarbeitern, anders als den sonstigen Arbeitnehmern, die Koalitionsfreiheit vorenthielt. Das Strafgesetzbuch von 1870 hingegen konnten die Liberalen kaum als Erfolg verbuchen, da es im Gegensatz zu ihren Forderungen an der Todesstrafe festhielt. Von dieser Ausnahme abgesehen konnten die Liberalen mit dem Ergebnis ihrer Zusammenarbeit mit der reformbereiten Ministerialbürokratie zufrieden sein: Der «Ressortliberalismus» der Jahre 1867 bis 1870 ging weit über sein bisheriges Betätigungsfeld, die Handelspolitik, hinaus.
Einige liberale Neuerungen gab es um diese Zeit auch in Süddeutschland. In Bayern konnte die Regierung Hohenlohe-Schillingsfürst 1868 die Gewerbefreiheit und im Jahr darauf eine liberale Gemeindeordnung durchsetzen. Ein antiklerikales Schulgesetz aber scheiterte an der katholischen Gegenbewegung. Im November 1869 gewann die konservative Bayerische Patriotenpartei die absolute Mehrheit im Landtag; es folgten Mißtrauensvoten gegen die Regierung in beiden Kammern Anfang 1870 und die Einsetzung eines neuen Kabinetts unter dem bisherigen Gesandten in Wien, dem Grafen Bray, der sich um die Verständigung mit der parlamentarischen Mehrheit bemühte. In Württemberg gingen die Demokraten und die Großdeutschen aus den Landtagswahlen vom Juli 1868 als Sieger hervor, was die Regierung des inzwischen eher preußenfreundlichen Ministerpräsidenten von Varnbüler zu vorsichtigem Taktieren veranlaßte. Nur in Baden blieben die Liberalen an der Mehrheit und an der Macht. Unter den Ministerpräsidenten Karl Mathy und, nach dessen Tod im Februar 1868, Julius Jolly strebte die Regierung in Karlsruhe einen baldigen Anschluß des Großherzogtums an den Norddeutschen Bund an: eine Politik, die für die Kabinette in München und Stuttgart angesichts der parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse und der Stimmung im Land undenkbar war.
Für die Nationalliberalen im Norddeutschen Bund war Baden der nationale Lichtblick inmitten der partikularistischen Düsternis südlich des Mains. Allmählich wuchs bei den entschiedenen Kleindeutschen sogar der Verdacht, daß Bismarck angesichts der Widerstände in Bayern und Württemberg gar nicht mehr ernsthaft auf die Vollendung der deutschen Einheit hinarbeite. Am 24. Februar 1870 stellte der Abgeordnete Eduard Lasker anläßlich der dritten Lesung des Jurisdiktionsvertrages zwischen dem Norddeutschen Bund und Baden im Norddeutschen Reichstag einen Antrag, der die Enttäuschung und die Ungeduld der Nationalliberalen in bislang ungekannter Offenheit zum Ausdruck brachte: Der Reichstag möge Baden für seine unablässigen nationalen Bestrebungen danken und seine Genugtuung über das Ziel eines «möglichst ungesäumten Anschlusses an den bestehenden Bund» aussprechen.
Der «Antrag Lasker» war durchaus nicht im Sinne Bismarcks. Eine isolierte Aufnahme Badens in den Norddeutschen Bund konnte aus seiner Sicht nur dem Partikularismus in Bayern und Württemberg Auftrieb geben und die nationalen Kräfte in Süddeutschland schwächen. Zudem wußte der Bundeskanzler, daß Napoleon III. eine Ausdehnung des Norddeutschen Bundes über
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