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Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Titel: Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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nach bürgerlicher Emanzipation. In den siebziger Jahren eigneten sich Gruppen die nationale Rhetorik an, die der liberalen Einheitsbewegung ferngestanden oder sie bekämpft hatten: obenan die preußischen Konservativen, die durch ebendiese Usurpation ihren Wähleranhang bei wettbewerbsmüden Bauern, Handwerkern und Kaufleuten zu erweitern versuchten.
    «National» zu sein bedeutete nun zunehmend antiinternational und häufig auch bereits antisemitisch zu sein; es hieß gegen das internationale Bankkapital und den internationalen Sozialismus vorzugehen, die den Antisemiten zufolge beide von den Juden gesteuert wurden. So wurde aus einer Parole liberaler und demokratischer Freiheitsfreunde ein Schlachtruf der Rechten im Kampf gegen alle, denen nach ihrer Meinung die wahrhaft «nationale» Gesinnung und die entsprechende Wehrfreudigkeit fehlten. Was man als Wandel des Nationalismus in den siebziger Jahren beschreiben kann, bezog sich auf seine innenpolitische Stoßrichtung, seine gesellschaftliche Funktion, seine Trägerschichten. In anderer Hinsicht bildete das Jahrzehnt nach der Reichsgründung keinen Einschnitt in der Geschichte des deutschen Nationalbewußtseins. Die quasireligiöse Überhöhung der Nation, ihr Anspruch auf exklusive Loyalität und ihre aggressive Abgrenzung gegenüber anderen Nationen: All das hatten auch schon die frühen deutschen Nationalisten Fichte, Jahn und Arndt zu Beginn des 19. Jahrhunderts verkündet. Der neue «Reichsnationalismus» konnte an dieses Erbe anknüpfen.
    Die Transformation des Nationalismus im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts war, wie wir noch sehen werden, kein ausschließlich deutsches Phänomen. Dasselbe gilt von der Wende zum wirtschaftlichen Protektionismus. Zwischen 1876 und 1881 vollzogen Rußland, Italien und Frankreich eine ähnliche Korrektur ihrer Handelspolitik wie Deutschland; die Vereinigten Staaten von Amerika hatten dies schon 1864 getan. Spezifisch deutsch war das «feudale» Nutznießertum des wirtschaftlichen Nationalismus: Die Schutzzölle konservierten eine aristokratische Führungsschicht, die dem Zentrum der politischen Macht immer noch näher war als das Bürgertum. Die nationale Rhetorik diente dazu, eine durchaus eigennützige Politik als Dienst am Gemeinwohl erscheinen zu lassen. Kein Zeitgenosse hat diese Transformation des deutschen Nationalismus so prägnant beschrieben wie 1888 der liberale Ludwig Bamberger: «Das nationale Banner in der Hand der preußischen Ultras und der sächsischen Zünftler ist die Karikatur dessen, was es einst bedeutet hat, und diese Karikatur ist ganz einfach so zustande gekommen, daß die überwundenen Gegner sich das abgelegte Gewand des Siegers angeeignet und dasselbe nach ihrer Fasson gewendet, aufgefärbt und zurechtgestutzt haben, um als die lachenden Erben der nationalen Bewegung darin einherstolzieren zu können.»
    Bamberger gehörte ebenso wie sein Freund Eduard Lasker zu den liberalen Juden, die sich 1866 mit Bismarck verbündet hatten, um die Sache von Einheit und Freiheit voranzubringen. Im Jahre 1880 brachen sie mit dem Reichskanzler und der Nationalliberalen Partei. Als erster trat Lasker im März aus der nationalliberalen Reichstagsfraktion aus. Ende August folgten ihm weitere 27 Abgeordnete, unter ihnen Bamberger, Forckenbeck, Mommsen und Stauffenberg, die sich zu einer neuen Gruppe, der «Liberalen Vereinigung», zusammenschlossen. Die (nach dem Titel einer Broschüre von Bamberger so genannte) «Sezession» begründete diesen Schritt mit der «rückschrittlichen Bewegung», die der Reichskanzler in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre eingeleitet hatte, freilich auch mit der beginnenden, von Bennigsen mitgetragenen Abmilderung der preußischen Kulturkampfgesetze vom Mai 1873 im Jahre 1880. Die Parteiführung der Nationalliberalen schien sich mit Bismarcks Politik abgefunden zu haben: Um eine konservativ-klerikale Mehrheit zu verhindern, arbeitete sie an der Bildung einer liberal-konservativen Mehrheit. Hinter Bennigsen standen nach dem Ausscheiden der Schutzzöllner und der Sezessionisten nur noch 45 der im Juli 1878 gewählten 99 Abgeordneten der Nationalliberalen Partei. Der deutsche Liberalismus präsentierte sich neun Jahre nach der Reichsgründung so uneins und gespalten wie nie zuvor.[ 17 ]
    Der Alpdruck der Koalitionen: Bismarcks Europa
    Außenpolitisch schienen die Machtverhältnisse in Europa nach 1871 erst einmal geklärt zu sein. Es gab nach wie vor fünf Großmächte, aber

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