Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Titel: Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
Vom Netzwerk:
innerhalb ihres «Konzerts» hatte sich die Balance verschoben. An die Stelle Preußens war das Deutsche Reich getreten, das ein sehr viel stärkeres Gewicht in die Waagschale werfen konnte als Preußen oder der Norddeutsche Bund; Frankreich war nachhaltig geschwächt; Großbritannien sah seinen Einfluß auf dem Kontinent durch die Entstehung des Deutschen Reiches geschmälert. In geringerem Maß traf dies auch für Rußland und Österreich-Ungarn zu. Im Drei-Kaiser-Abkommen vom Oktober 1873 vereinbarten die beiden Ostmächte mit Deutschland wechselseitige Konsultationen in allen Fragen von gemeinsamem Interesse. Von einem festen Bündnis war diese Absprache aber weit entfernt.
    Vieles hing für Europa davon ab, ob sich Deutschland nach der Erreichung seiner staatlichen Einheit «saturiert» fühlen und Frankreich mit seiner Niederlage abfinden würde. Das letztere wäre leichter gewesen, hätte Deutschland nicht das Elsaß und einen großen Teil von Lothringen annektiert, was nahezu alle Franzosen als krasses Unrecht empfanden. Der Wunsch, den Verlust dieser Gebiete rückgängig zu machen, einte das Land mehr als irgendeine andere Forderung. Gambetta brachte dieses Streben am 22. September 1872 in einer Rede in Chambéry auf die klassische Formel: «Denken wir immer an das, was wir zu tun haben, sprechen wir aber nie davon!» (Pensons sans cesse à ce que nous avons à faire, mais n’en parlons jamais!). Ein anderes Ziel war sehr viel rascher zu erreichen: Im September 1873 räumten die deutschen Truppen, nachdem Frankreich seine Reparationen vorzeitig überwiesen hatte, die von ihnen besetzten Teile des französischen Territoriums.
    Zwei Jahre später schien Europa am Rande eines neuen deutschfranzösischen Krieges zu stehen. Im März 1875 nahm die französische Nationalversammlung ein Kadergesetz an, das die militärische Schlagkraft des Landes stärken sollte. Bismarck, wegen der kirchlichen Agitation für die Wiedergewinnung Elsaß-Lothringens und die Präsidentschaft des Marschalls Mac-Mahon ohnehin seit längerem beunruhigt, reagierte ungewohnt nervös. Am 8. April ließ er in der regierungsnahen «Post» einen Artikel mit der Überschrift «Ist der Krieg in Sicht?» veröffentlichen. An einen Präventivkrieg zur Abwehr der vermeintlichen Gefahr dachte der Reichskanzler nicht; er wollte lediglich herausfinden, wie sich Europa verhalten würde, wenn Deutschland auf der Rücknahme des Gesetzes bestehen und tatsächlich mit Krieg drohen sollte. Der Test ging zu Ungunsten Deutschlands aus: England und Rußland stellten sich auf die Seite des bedrohten Frankreich. Bismarck mußte einsehen, daß er sein Spiel mit der «Krieg-in-Sicht-Krise» überreizt hatte. Er trat den diplomatischen Rückzug an und betonte in der Folgezeit immer wieder, daß das Reich keinerlei Gebietsforderungen vertrete und den Frieden zu erhalten wünsche. Mit der halben Hegemonie, die Deutschland 1871 zugefallen war, konnte Europa gerade noch leben; jeder Versuch, zur vollen Hegemonie zu gelangen, beschwor die Gefahr eines großen Krieges herauf.
    Im gleichen Jahr 1875 begann eine neue Orientkrise. Im Sommer kam es in Bosnien und der Herzegowina, im Frühjahr 1876 auch in Rumänien zu Aufständen gegen die türkische Herrschaft. Serbien und Montenegro nahmen das zum Anlaß, dem Osmanischen Reich, das nach wie vor die Oberhoheit über die beiden autonomen Fürstentümer beanspruchte, im Frühsommer 1876 den Krieg zu erklären. Unter dem Eindruck der erstarkenden, vom Zarenhof geförderten panslawistischen Agitation eilten russische Freiwillige den kämpfenden Serben zu Hilfe. In zahlreichen Versammlungen wurde der Ruf nach der russischen Herrschaft über die Meerengen und Konstantinopel laut. Als irreguläre türkische Verbände Tausende von bulgarischen Zivilisten, darunter Frauen und Kinder, niedermetzelten, fegte ein Sturm der Entrüstung über ganz Europa hinweg. Österreich-Ungarn sicherte, von Bismarck ermutigt, Rußland im Juli 1876 für den Fall eines russischtürkischen Krieges seine Neutralität zu. Sollte das Zarenreich den Krieg gewinnen und sich Bessarabien aneignen, stand Österreich-Ungarn das Recht zur Besetzung Bosniens und der Herzegowina zu. Serbien und Montenegro sollten nach einem Sieg über die Türken vergrößert, nach einer Niederlage in ihrem territorialen Bestand nicht geschmälert werden.
    Nachdem die Türken die Aufstände bis zum Frühjahr 1876 niedergeworfen und im Herbst auch Serbien geschlagen hatten, erzwang

Weitere Kostenlose Bücher