Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
Pflege der russischen Sprache und der orthodoxen Religion verpflichtet, die Lehrpläne auf die Abwehr westlicher Ideen ausgerichtet. Auf der Linie eines ausgeprägten russischen Nationalismus lag auch die fortschreitende Russifizierung der baltischen Ostseeprovinzen Estland, Livland und Kurland sowie des Großfürstentums Finnland, Russisch-Polens und Armeniens. Schritt für Schritt setzte die Regierung in St. Petersburg den Gebrauch des Russischen an den Schulen sowie als Gerichts- und Behördensprache durch.
Am meisten hatten die Juden in den ihnen unter der Zarin Katharina II. zugewiesenen westrussischen Siedlungsgebieten, den «Rayons», unter der reaktionären Wende von 1881 zu leiden. Der Ermordung Alexanders II. folgten Pogrome in der Ukraine, die von Behörden und Polizei absichtsvoll geduldet wurden. Die «Maigesetze» von 1882 nahmen den Juden auch in den Siedlungsgebieten das Recht, Land zu erwerben oder zu pachten; sie wurden also faktisch dazu verurteilt, in Städten zu leben. 1887 folgte ein Numerus clausus für jüdische Studenten. In den frühen neunziger Jahren wurden rund 20.000 Juden, zumeist Handwerker, aus Moskau und St. Petersburg ausgewiesen. Diskriminierung, Unterdrückung und Verfolgung führten dazu, daß eine wachsende Zahl von Juden Rußland den Rücken kehrte: Fast eine Million verließen zwischen 1880 und 1905 das Zarenreich, die meisten von ihnen mit dem Wunsch, in den Vereinigten Staaten von Amerika ein neues Leben zu beginnen. Andere engagierten sich in revolutionären sozialistischen Zirkeln oder seit Ende der neunziger Jahre in der jungen zionistischen Bewegung, von der noch die Rede sein wird.
Den Kampf gegen den Terrorismus führte die politische Geheimpolizei, die Ochrana. Sie führte ihn mit Erfolg. Die Serie der Attentate riß 1881 ab. 1887 konnte die Ochrana eine revolutionäre Gruppe zerschlagen, die einen Anschlag auf den Zaren geplant hatte. Um die Arbeiter gegen revolutionäre Parolen immun zu machen, reichte Repression indes nicht aus. Die Regierung Alexanders II. versuchte sich deshalb seit 1882 an sozialpolitischen Maßnahmen wie der Einführung einer Fabrikinspektion, dem Verbot von Arbeit für Kinder unter 12 Jahren sowie der Nachtarbeit von Frauen und Jugendlichen und der Beschränkung der täglichen Arbeitszeit von Kindern zwischen 12 und 15 Jahren auf acht Stunden. Der Widerstand der Arbeitgeber gegen diese staatlichen Eingriffe war jedoch so massiv, daß die Schutzvorkehrungen für Kinder und Frauen 1890 wieder aufgehoben wurden. Ein Koalitionsrecht besaßen die Arbeiter nicht. Streiks waren verboten.
Die Industrialisierung Rußlands ging unter Alexander III. beschleunigt weiter. Der Staat, seit 1892 personifiziert durch den dynamischen Finanzminister Sergej Juljewitsch Witte, spielte dabei eine sehr viel größere Rolle als in Deutschland oder gar in England: Er kompensierte als Industrialisierungsagent bis zu einem gewissen Grad das Fehlen eines breiten städtischen Bürgertums und das wirtschaftliche Desinteresse großer Teile des Adels. Wachstumssektoren waren die Förderung von Steinkohle und die Roheisenproduktion im Donezbecken, die Erdölgewinnung bei Baku am Kaspischen Meer, die Maschinenbau- und Textilindustrie in Moskau und St. Petersburg und nicht zuletzt der Eisenbahnbau. Insgesamt stieg die Zahl der Arbeiter in Industrie und Verkehrswesen zwischen 1865 und 1900 von 380.000 auf 3 Millionen an: angesichts einer Gesamtbevölkerung von inzwischen 133 Millionen (ohne Finnland, Buchara und Chiwa) noch immer eine bescheidene Größe.
Die Zahl der industriellen Arbeiter hätte sehr viel höher sein können, wären die Bauern nicht nach wie vor an die Dorfgemeinde, den «mir» oder die «obšcina», gebunden gewesen. Der bebaubare Boden war zwar mittlerweile zum größten Teil in der Hand von Bauern, aber die Produktivität der Landwirtschaft blieb sehr gering. Die Abgaben, die die Bauern für das ihnen nach der Aufhebung der Leibeigenschaft im Jahre 1861 überlassene Land zu zahlen hatten, überforderten die Mehrzahl von ihnen; nur die Minderheit der reichsten Bauern, der Kulaken, profitierte materiell von der Agrarreform Nikolaus’ I. 1883 wurden die Rückzahlungsraten um 20 Prozent gesenkt, die Zahlungen danach zeitweilig sogar ganz ausgesetzt. Die Zahlungsrückstände stiegen dessen ungeachtet weiter an, und bis 1903 haftete der «mir», wenn einzelne seiner Mitglieder die ihnen obliegenden Zahlungspflichten nicht erfüllten. Die Aufhebung der
Weitere Kostenlose Bücher