Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
Anarchismus längst eine scharfe Absage erteilt, diesen damit aber nicht aus der Welt schaffen können. Der Mord an König Umberto brachte nicht nur das bürgerliche, sondern auch das proletarische Italien in einem Maß gegen die Anarchisten auf, das diesen gefährlich wurde: Die moralische Ächtung der Attentäter und ihrer Hintermänner trug viel dazu bei, daß die Welle der anarchistischen Gewalttaten zumindest in Westeuropa nach der Jahrhundertwende abebbte.
Wenige Monate nach dem Attentat auf König Umberto bekam die italienische Arbeiterschaft Gelegenheit, ihre politische Reife zu beweisen: Als der Präfekt von Genua im Dezember 1900 die örtliche Camera del lavoro, ein Organ der gewerkschaftlichen Selbsthilfe, schließen ließ, antwortete das Proletariat der norditalienischen Hafenstadt mit einem gewaltlosen Generalstreik. Die Regierung von Giuseppe Saracco, dem Nachfolger des Generals Pelloux, hatte die Maßnahme des Präfekten zunächst gebilligt, widerrief dann aber unter dem Eindruck der Proteste die Auflösungsorder. Von rechts und links kritisiert, war das Kabinett mittlerweile so geschwächt, daß sich der Ministerpräsident zum Rücktritt entschloß. Zu seinem Nachfolger ernannte der neue König Viktor Emanuel III. den Führer der konstitutionellen Linksliberalen, Giuseppe Zanardelli. Innenminister und bestimmende Persönlichkeit des Kabinetts wurde Giovanni Giolitti, der der italienischen Politik bis zum Ersten Weltkrieg seinen Stempel aufdrücken sollte.
Mit der Berufung der Regierung Zanardelli begann ein neuer Abschnitt der italienischen Geschichte. Die Gefahr, daß Italien sich in ein autoritäres Regime verwandeln könnte, schien fürs erste gebannt: Die liberalen Kräfte hatten, unterstützt von den breiten Massen, eine Rückentwicklung des parlamentarischen in ein konstitutionelles System nach deutschem Vorbild, wie sie Konservative und Rechtsliberale erstrebten, verhindert. Ob die innenpolitische Liberalisierung, die nun einsetzte, sich auch auf die Außenpolitik auswirken würde, war um 1901 noch eine offene Frage. Die Entspannung im Verhältnis zu Frankreich, die sich schon kurz nach Crispis Rücktritt abzuzeichnen begann, deutete auf eine solche Möglichkeit hin.[ 23 ]
Reaktion, Radikalismus, Revolution: Rußland 1881–1906
Weit häufiger als in Italien verübten im 19. und frühen 20. Jahrhundert politische Attentäter in Rußland Anschläge gegen führende Vertreter der Staatsgewalt. Am 13. März 1881 fiel Zar Alexander II. in St. Petersburg einem Bombenanschlag zum Opfer. Von den sechs letzten Zaren starben drei einen gewaltsamen Tod: vor Alexander II. sein Großvater Paul I. im Jahre 1801, nach ihm 1918 sein Enkel Nikolaus II., der letzte Herrscher aus dem Hause der Romanow.
Der Mord von 1881 wurde nicht von Anarchisten, sondern von Narodniki oder Volksfreunden begangen, die seit den siebziger Jahren ganz auf den Terror als Mittel der revolutionären Veränderung von Staat und Gesellschaft setzten. 1879 hatte die «Narodnaja Wolja», ein kleiner Kreis von etwa dreißig Männern und Frauen, ein Todesurteil über den Zaren verhängt. Zwei Attentate, das erste im November 1879, das zweite im Februar 1881, schlugen fehl. Dem dritten Anschlag erlag Alexander II. just in dem Augenblick, in dem er sich nach langem Zögern auf Drängen seines Innenministers, des Grafen Michail Loris-Melikow, zur Vorlage einer Konstitution entschlossen hatte, die der Regierung ein beratendes, von den städtischen Dumas und den Kreisversammlungen (Semstwos) gewähltes Expertengremium zur Seite stellen sollte. Die Veröffentlichung des Entwurfs war für den 16. März 1881 vorgesehen. Der Zarenmord hatte zur Folge, daß die Verfassung nie in Kraft trat.
Der neue Zar, Alexander III., war durch und durch Militär und in politischen Fragen vom Urteil seines wichtigsten Beraters und einstigen Erziehers, des Grafen Konstantin Petrowitsch Pobedonoszew, abhängig. Pobedonoszew, Jurist und Oberprokuror des Heiligen Synods, der obersten Kirchenbehörde, war ein überzeugter Slawophiler, Vertreter einer streng orthodoxen Kirchenpolitik und entschiedener Gegner aller liberalen Bestrebungen. Das bekamen vor allem die Universitäten zu spüren, die das Recht der Selbstverwaltung verloren und die staatliche überwachung der Vorlesungen hinnehmen mußten. Aus Furcht vor der Ausbreitung revolutionären Gedankengutes senkte die Regierung zeitweilig sogar die Zahl der Studenten und Gymnasiasten. Die Schulen wurden auf die
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