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Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Titel: Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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Kollektivhaftung half zwar der Dorfgemeinde, aber nicht dem ländlichen Proletariat: Das Problem der Dorfarmut blieb ungelöst.
    Die mangelnde Produktivität der Landwirtschaft und die geringe Kaufkraft der Landbevölkerung waren Fesseln des Industrialisierungsprozesses. Sie behinderten das Wachstum des Binnenmarktes und der industriellen Investitionen. Das Zarenreich war infolgedessen in hohem Maß auf Kapitalimporte aus dem Ausland angewiesen. Seit die russischen Staatspapiere durch Bismarcks «Lombardverbot» 1887 vom deutschen Markt vertrieben worden waren, sprang Frankreich in die Bresche. «Bei der schier unbegrenzten Absorptionskraft der Pariser Banken für festverzinsliche Staatspapiere und Eisenbahnobligationen nahm Frankreich die Russenpapiere bereitwillig auf», schreibt der deutsche Historiker Dietrich Geyer. «Auch durch Direktinvestitionen, konzentriert auf den Bergbau und auf metallverarbeitende Unternehmen, wurde die französische Hochfinanz nun zum Hauptgläubiger und Teilhaber des russischen Industrie- und Verkehrsausbaus.» Um die Jahrhundertwende war etwa ein Viertel aller französischen Auslandswerte, etwa 7 Milliarden Francs, in Russenpapieren und russischen Industrieunternehmungen angelegt. Ein Finanzbankrott des Zarenreiches hätte, so Geyer, «die breite, bis ins Kleinbürgertum reichende Schicht französischer Anteilseigner schwer getroffen und die innenpolitische Position der Pariser Regierung empfindlich berührt».
    Die engen Beziehungen zwischen dem französischen Rentenkapitalismus und dem russischen Staatskapitalismus sollten weitreichende politische Folgen haben: eine Entwicklung, die beim Regierungsantritt Alexanders III. noch nicht absehbar war. Der neue Zar hatte zunächst erfolgreich versucht, das Verhältnis zu Deutschland und Österreich-Ungarn, das seit dem Berliner Kongreß von 1878 sehr angespannt war, zu verbessern: Das Dreikaiserabkommen vom Juni 1881 war wesentlich ein Werk der russischen Diplomatie unter Außenminister Nikolai Giers. Seit 1885 aber verschlechterten sich die Beziehungen zwischen dem Zarenreich und der Habsburgermonarchie infolge der bulgarischen Krise. Das Verhältnis zu Deutschland wurde durch die steigenden Schutzzölle beider Seiten, vor allem aber durch die börsenpolitischen Kampfmaßnahmen Berlins von 1887 belastet, was die Regierung in St. Petersburg aber nicht daran hinderte, Bismarck unmittelbar vor seiner Entlassung die Erneuerung des Rückversicherungsvertrages von 1887 vorzuschlagen.
    Die Ablehnung dieses Angebots durch die Regierung von Bismarcks Nachfolger Caprivi war ein Grund dafür, daß sich aus dem informellen russisch-französischen Finanzbündnis ein formelles politisches und militärisches Bündnis entwickelte. Ein anderer Grund war die Erneuerung des deutsch-österreichisch-italienischen Dreibundes im Mai 1891: ein Schritt, der eine weitere Annäherung der drei Mächte an England anzudeuten schien und eben darum von Rußland als bedrohlich empfunden wurde. Entsprechend reagierte St. Petersburg. Im Juli 1891 fand jener legendäre französische Flottenbesuch in Kronstadt statt, bei dem Zar Alexander III. der Marseillaise seine Reverenz erwies. Es folgten im August 1891 ein Konsultationsabkommen und im August 1892 eine Militärkonvention zwischen Rußland und Frankreich: Wenn einer der beiden Vertragspartner von einer der Dreibundmächte angegriffen werden sollte und sich Deutschland an diesem Angriff beteiligte, war der andere Vertragspartner zum Kampf gegen Deutschland verpflichtet.
    Der Vertrag half Frankreich aus seiner zwanzigjährigen Isolierung heraus und stärkte Rußland gegenüber seinem Hauptrivalen England. Er gab aber weder Frankreich eine Handhabe, einen Krieg um die Wiedergewinnung von Elsaß-Lothringen zu führen, noch Rußland, das in Österreich-Ungarn und nicht in Deutschland den eigentlichen Gegner auf dem Kontinent sah, freie Hand auf dem Balkan. Auch deswegen zögerte Alexander III. lange mit der Unterzeichnung. Ein weiterer Zollkrieg mit Deutschland trug dazu bei, seine Bedenken zu überwinden. Ende Dezember 1893 setzte er, Anfang Januar 1894 der französische Staatspräsident Carnot seine Unterschrift unter die Militärkonvention.
    Was St. Petersburg und Paris vereinbart hatten, trug defensiven Charakter. Dennoch erhöhte sich durch den russisch-französischen Vertrag für Deutschland die Gefahr eines Zweifrontenkrieges: Der «Alpdruck der Koalitionen», den Bismarck durch seine Bündnispolitik zu bannen versucht

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