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Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Titel: Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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Sozialdemokratie lehne die Verantwortung für die auf der kapitalistischen Produktionsweise beruhenden politischen und wirtschaftlichen Zustände ab und verweigere deshalb jede Bewilligung von Mitteln, welche geeignet seien, die herrschende Klasse an der Regierung zu erhalten. Abschließend legte sich die Sozialdemokratische Partei Deutschlands ausdrücklich darauf fest, daß sie «einen Anteil an der Regierungsgewalt innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft nicht anstreben kann».
    Der Parteitag berief sich bei dieser Aussage auf den Geist der «Resolution Kautsky», die die Zweite Internationale auf ihrem Kongreß in Paris im September 1900 verabschiedet hatte. Diese Resolution nannte eine Teilnahme von Sozialisten an bürgerlichen Regierungen ein «gefährliches Experiment», das nur dann statthaft sei, wenn es sich um einen «vorübergehenden und ausnahmsweisen Notbehelf in einer Zwangslage» handle. Damit bezog die Internationale offiziell Stellung zu einer «cause celèbre» der zerstrittenen französischen Sozialisten, dem «Cas Millerand». Im Mai 1899 war der Sozialist Alexandre Millerand in das republikanisch-radikale Kabinett unter Pierre M. R. Waldeck-Rousseau eingetreten und hatte so eine Regierung der Linken ermöglicht. Der erste Fall von «Ministerialismus» in der Geschichte der europäischen Arbeiterbewegung hing eng mit der noch zu erörternden Krise zusammen, in die die Dritte Republik durch die «Dreyfus-Affäre» geraten war. Millerand war neben Jean Jaurès, René Viviani und Aristide Briand der prominenteste Vertreter der Gruppe «Unabhängige Sozialisten», die ebenso wie die reformistischen «Possibilisten» um Paul Brousse seinen Schritt unterstützten. Dagegen reagierten die orthodoxen Marxisten um Jules Guesde, den Vorsitzenden des Parti Ouvrier Français, wie auch die Syndikalisten und die Blanquisten im Parti Socialiste Révolutionnaire mit Empörung auf den Kabinettseintritt Millerands.
    Die «Resolution Kautsky» war ein Formelkompromiß, der eher die Reformer als die Orthodoxen befriedigte. In Frankreich vereinigten sich im Herbst 1901 die letzteren unter Führung von Jules Guesde im Parti Socialiste de France, die ersteren unter Jean Jaurès im Parti Socialiste Français. Die Dresdner Entschließung der SPD erschien Guesde zu Recht als Bestätigung der eigenen Position, und deshalb ging sein Bestreben fortan dahin, die Internationale auf die Linie von Dresden festzulegen. Im August 1904 war er am Ziel: In einer Kampfabstimmung stellte sich der Amsterdamer Kongreß der Internationale auf den Boden des Parteitagsbeschlusses der deutschen Sozialdemokraten von 1903.
    Die Reformisten um Jaurès und émile Vandervelde, den Führer der belgischen Sozialisten, die die Verurteilung von Reformismus und Revisionismus aus dem Text hatten streichen wollen, erlitten, trotz der Unterstützung durch die sozialdemokratischen Parteien Großbritanniens, Schwedens, Dänemarks, Österreichs, der Schweiz, Argentiniens sowie von Australien, Kanada und Südafrika, eine knappe Niederlage in Gestalt eines Patts von 21 zu 21 Stimmen. (Abstimmen durften nur die Mitglieder des Internationalen Sozialistischen Bureaus, in dem jedes Land, unabhängig von seiner Größe, durch zwei Delegierte vertreten war, die nicht einheitlich abstimmen mußten.) Zu den Gegnern des Änderungsantrags gehörten die SPD und die sozialistischen Parteien Bulgariens, Böhmens, Spaniens, Ungarns, Italiens, Rußlands, der USA und Japans.
    Dennoch widersetzte sich Jaurès nicht dem Aufruf zur Einigung, den der Kongreß an die Adresse aller gespaltenen sozialistischen Parteien und, unausgesprochen, besonders an die der französischen Sozialisten richtete. Noch in Amsterdam bekundeten die Sprecher der Reformisten und der Orthodoxen ihre Bereitschaft zum Zusammenschluß. Die Vereinigung erfolgte auf einem Kongreß in Paris im April 1905. Die neue Partei nannte sich Parti Socialiste, fügte dem aber noch demonstrativ einen weiteren Namen hinzu: Section Française de l’Internationale Ouvrière (S.F.I.O.). Der «Fall Millerand» hatte sich um diese Zeit bereits erledigt: Das Kabinett Waldeck-Rousseau war im Mai 1902 zurückgetreten; in der nachfolgenden, von Jaurès unterstützten linken Minderheitsregierung von émile Combes saßen keine Sozialisten.
    Der «Ministerialismus» war nur eines der Streitthemen, die die Internationale um die Jahrhundertwende beschäftigten. Mit mindestens ebenso viel Leidenschaft wurde über den Streik als Mittel

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