Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
für eine bauernfreundliche Politik der SPD einsetzte und der parteioffiziellen Doktrin vom unausweichlichen Vordringen des landwirtschaftlichen Großbetriebs mit guten Gründen widersprach.
Doch es ging bei der Abwehr des Revisionismus nicht nur um die Bekämpfung einer Theorie. Was Bernsteins Thesen besonders gefährlich erscheinen ließ, war die Möglichkeit, daß sie zur Begründung einer Praxis werden konnten, die sich in Teilen der SPD ausbreitete: des «Reformismus». Zu seinen führenden Vertretern gehörten der Vorsitzende der Generalkommission der Freien Gewerkschaften, des Dachverbandes der sozialdemokratisch orientierten Gewerkschaftsrichtung, Carl Legien, und der Vorsitzende der bayerischen Sozialdemokraten, Georg Vollmar. Der letztere hatte schon 1891 in seinen Münchner «Eldorado»-Reden als erster dazu aufgerufen, «vom Theoretischen ins Praktische , vom Allgemeinen mehr ins Einzelne» zu gehen und über dem «Zukünftigen» nicht das «Gegenwärtige, Nächste, Dringendste» zu vergessen, also Realpolitik zu betreiben. An Theorie waren die Reformisten nicht sonderlich interessiert, aber wie die Revisionisten waren auch sie entschlossen, vorhandene Handlungsspielräume zu nutzen und sich von überlieferten Dogmen nicht behindern zu lassen.
In der Logik dessen, was Revisionisten und Reformisten wollten, lag eine Zusammenarbeit mit «fortschrittlichen» bürgerlichen Parteien. Ein solches Zusammenwirken hatte die Parteiführung bisher nur bei Stichwahlen und einzelnen parlamentarischen Abstimmungen zugelassen: eine Linie, die im Oktober 1899 vom Hannoveraner Parteitag auf Antrag Bebels mit großer Mehrheit bestätigt wurde. Aber eine Ausweitung der Zusammenarbeit in Richtung faktischer «Koalitionen» (soweit es solche in einem nichtparlamentarischen Regierungssystem wie dem des Deutschen Reiches überhaupt geben konnte), wollte die Parteiführung keinesfalls zulassen. Die breite Mitgliedschaft der SPD ging in ihrem Willen zur Abschottung gegenüber allem, was nicht sozialdemokratisch war, sogar noch weiter als Bebel: Ein vom Vorsitzenden unterstütztes Agrarprogramm, das die Partei für Kleinbauern öffnen sollte, wurde 1895 auf dem Breslauer Parteitag abgelehnt. Das Sozialistengesetz hatte wesentlich dazu beigetragen, die Sozialdemokraten zu einem «Milieu» zusammenzuschweißen, das «unter sich» bleiben wollte und alle übrigen gesellschaftlichen Schichten als mehr oder minder «reaktionär» empfand. Aus dieser Haltung erklärt sich auch das Nein, das zwei Parteitage, zuerst der in Hannover im Oktober 1899 und dann, in sehr viel schärferer Form, der in Dresden im September 1903, den revisionistischen Vorstößen Eduard Bernsteins entgegensetzten.
Der Dresdner Parteitag fand ein Vierteljahr nach einer Reichstagswahl statt, bei der die SPD erstmals die Zahl von 3 Millionen Stimmen übersprungen hatte. Die stärkste Partei Deutschlands war die Sozialdemokratie bereits seit 1890, aber einen solchen Zuwachs wie 1903, nämlich über 900.000 Stimmen, hatte sie noch nie erzielt. Wegen des Mehrheitswahlrechts mit den Stichwahlen in der zweiten Runde und der Wahlkreiseinteilung, die das Land auf Kosten der großen Städte bevorzugte, stiegen die Sozialdemokraten noch nicht zur stärksten Fraktion des Reichstags auf; diese Position behauptete das katholische Zentrum, das nur 15,3 Prozent der Wählerstimmen erlangt hatte, weniger als die Hälfte des sozialdemokratischen Anteils von 31,7 Prozent. Aber es lag nahe, angesichts eines Zugewinns von 27 Mandaten dem Anspruch auf den Posten eines Vizepräsidenten des Reichstags zu erheben. Doch ebendies lehnte der Dresdner Parteitag ab, weil die Zugehörigkeit zum Reichstagspräsidium mit der protokollarischen Pflicht eines Besuchs beim Kaiser, dem «zu Hofe gehen», verbunden war.
Die Entschließung gegen die «revisionistischen Bestrebungen», die mit 288 gegen 11 Stimmen angenommen wurde, gipfelte in dem Vorwurf, die Befürworter der Kurskorrektur suchten «unsere bisherige bewährte und sieggekrönte Taktik in dem Sinne zu ändern, daß an Stelle der Eroberung der politischen Macht durch die überwindung unserer Gegner eine Politik des Entgegenkommens an die bestehende Ordnung der Dinge tritt». Der Parteitag stellte demgegenüber ausdrücklich fest, daß die Partei nicht auf die Reformierung der bürgerlichen Gesellschaftsordnung in die sozialistische Gesellschaftsordnung hinarbeite, also «im besten Sinne des Wortes revolutionär» sei. Die
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