Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
auf die Kritik, die Rosa Luxemburg an seiner Artikelserie geübt hatte. 1871 in Zamosc in Russisch-Polen geboren, in Warschau aufgewachsen, schon als Schülerin in der revolutionären sozialistischen Bewegung aktiv, in ihrer Studienzeit in Zürich zusammen mit anderen Emigranten Mitgründerin der «Sozialdemokratie des Königreichs Polen», promovierte Nationalökonomin, lebte Rosa Luxemburg seit 1898 in Berlin. Im September jenes Jahres veröffentlichte sie in der sozialdemokratischen «Leipziger Volkszeitung» ihre gegen Bernsteins Thesen gerichtete Artikelfolge «Sozialreform oder Revolution?», die unter dem gleichen Titel 1900 auch als Broschüre erschien. Bernsteins Revisionismus nannte sie eine «Theorie der sozialistischen Versumpfung, vulgärökonomisch begründet durch eine Theorie der kapitalistischen Versumpfung»; seine Darlegungen waren ihrem Verdikt zufolge «der erste , aber zugleich auch der letzte Versuch, dem Opportunismus eine theoretische Grundlage zu geben». Die Gegenüberstellung von Reform und Revolution sei ganz und gar undialektisch; Marx habe zwar eine «friedliche Ausübung der proletarischen Diktatur» als Möglichkeit in Erwägung gezogen, aber «nicht die Ersetzung der Diktatur durch kapitalistische Sozialreformen».
Wenn Bernstein die Entwicklung der deutschen und der internationalen Arbeiterbewegung aus dem Blickwinkel englischer Reformer sah, dann Rosa Luxemburg mit den Augen einer Revolutionärin, die von den Erfahrungen des Zarenreiches geprägt war. Bernstein unterschätzte die Härte des Widerstands, mit dem alle rechnen mußten, die auf eine Parlamentarisierung und Demokratisierung des Hohenzollernreiches hinarbeiteten. Luxemburg überschätzte dagegen das revolutionäre Potential im internationalen und im deutschen Proletariat, und sie unterschätzte sowohl die Möglichkeiten, die der deutschen Sozialdemokratie durch allgemeines Wahlrecht, parlamentarische Betätigung, Streikrecht, Meinungs- und Pressefreiheit offenstanden, als auch die bewußtseinsprägende Kraft, die von diesen Errungenschaften ausging.
Der dritte bedeutende Teilnehmer am sozialdemokratischen Grundsatzstreit über Reform und Revolution, Demokratie und Diktatur war Karl Kautsky. «Objektiv» stand er dem «rechten» Bernstein viel näher als der «linken» Luxemburg. Aber als der führende Theoretiker der SPD mußte er vor allem darauf achten, daß die Einheit der Partei erhalten blieb, und als «Zentrist» trug er der Tatsache Rechnung, daß das Gros der Parteimitglieder auf den «Marxismus» nichts kommen ließ, auch wenn die meisten ihn nur aus der Lektüre von Engels’ Streitschrift «Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft», dem «Anti-Dühring», von 1878 und Bebels Buch «Die Frau und der Sozialismus» von 1879 kannten. Überdies hielt Kautsky die Konzentrationsthese von Marx sowohl im Hinblick auf die Industrie wie auf die Landwirtschaft nach wie vor für richtig und Bernsteins Wiedergabe der Marxschen Thesen für stark vergröbert.
Also galt es, an der Lehre der Klassiker und am Endziel der sozialen Revolution festzuhalten, um siegen zu können. Zwischen Revolution und Aufstand aber mußte scharf unterschieden werden: «Die soziale Revolution ist ein Ziel, das man sich prinzipiell setzen, der Aufstand ein Mittel zum Zweck, das man stets nur nach Gründen der Zweckmäßigkeit beurteilen kann.» Ebenso wichtig war es, eine klare Grenzlinie zwischen Sozialismus und Liberalismus zu ziehen. «Eine fortschrittliche Demokratie ist in einem Industriestaat nur noch möglich als proletarische Demokratie … Nur die Überzeugung von der Notwendigkeit der Herrschaft des Proletariats und von seiner politischen Reife kann heute noch dem demokratischen Gedanken werbende Kraft verleihen.» Im übrigen gab es nach Kautskys Meinung für die Sozialdemokraten Grund zur Hoffnung: «Was binnen drei Jahrzehnten zur stärksten Partei geworden, kann binnen weiteren drei Jahrzehnten zur herrschenden Partei werden, vielleicht schon früher.»
Kautsky sprach für das «Parteizentrum» um August Bebel, das Bernsteins Angriffe auf die marxistische Orthodoxie schon deswegen ernst nehmen mußte, weil der Urheber des «Revisionismusstreits», der 1902 bei einer Nachwahl in den Reichstag gewählt wurde, damit nicht allein stand. Zu seinen Verbündeten gehörten der Herausgeber der «Sozialistischen Monatshefte», Joseph Bloch, der Berliner Rechtsanwalt Wolfgang Heine und der «Agrarrevisionist» Eduard David, der sich
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