Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
des politischen Kampfes diskutiert. Den Anstoß hierzu gaben mehrere Massenstreiks, mit denen die belgischen Gewerkschaften zwischen 1886 und 1893 immer wieder versucht hatten, die Einführung des allgemeinen Wahlrechts zu erzwingen. Auf zwei Kongressen der Internationale, dem Züricher von 1893 und dem Londoner von 1896, hatten sich die französischen Gewerkschaften vergeblich bemüht, das Thema «Weltstreik» oder, bescheidener, «Generalstreik» im nationalen Rahmen zum Gegenstand einer Plenardebatte zu machen. In den französischen Gewerkschaften gaben die Syndikalisten den Ton an, die dem Parlamentarismus reserviert bis ablehnend gegenüberstanden. Sie ließen sich vom Glauben an die «action directe» der Arbeiter und dem Schlagwort der «revolutionären Gymnastik» inspirieren; der 1895 gegründete Dachverband der Confédération Générale du Travail (C.G.T.) wurde nach der Verschmelzung mit dem Verband der Arbeiterbörsen, der Fédération des Bourses du Travail, im Jahre 1902 zur Speerspitze des revolutionären Syndikalismus. Eine umfassende theoretische Begründung erhielt diese Bewegung durch die 1908 veröffentlichten «Réflexions sur la violence» des erst zwischen konservativen, dann sozialistischen, zuletzt probolschewistischen und profaschistischen Neigungen schwankenden Philosophen Georges Sorel – eine Kampfschrift gegen den «bürgerlichen» Parlamentarismus, ja die Demokratie überhaupt, auf die sich später auch die italienischen Faschisten um Benito Mussolini beriefen.
Auf dem Pariser Kongreß der Internationale im September 1900 machten sich auch die französischen Reformisten um Jean Jaurès zu Fürsprechern des Generalstreiks. In ihrem Namen bezeichnete Aristide Briand den Generalstreik als die revolutionäre Aktionsform, mit der das Proletariat Hand auf die Produktionsmittel der Gesellschaft lege, um sie zu behalten. Sein schärfster Widersacher war Carl Legien, der Vorsitzende der Generalkommission der Freien Gewerkschaften Deutschlands. Nach seiner Meinung existierte noch nirgendwo die Voraussetzung eines erfolgreichen Generalstreiks, nämlich eine hinreichend starke gewerkschaftliche Massenorganisation; einen Generalstreik unorganisierter Massen, eventuell auch mit Waffengewalt, niederzuwerfen und so die Arbeit von Jahrzehnten zu vernichten wäre für die Bourgeoisie ein Vergnügen. Ungeteilte Unterstützung fanden die französischen Reformisten und Syndikalisten nur bei den sozialistischen Parteien Portugals und Argentiniens; die Vertreter Frankreichs, Italiens und Rußlands stimmten teils für, teils gegen den Antrag Briands und seiner Freunde; die orthodoxen Marxisten, darunter Guesde, sprachen sich gegen den Vorstoß aus. Aus ihrer Sicht war die Agitation für den Generalstreik mit dem charakteristischen Mangel des Syndikalismus behaftet: der Unterschätzung des politischen Kampfes für den Sozialismus.
Die Generalstreiksfrage blieb trotz der hinhaltenden Taktik der Internationale auf der Tagesordnung. In mehreren Ländern wollte die Arbeiterschaft in ihrem Kampf um das allgemeine gleiche Wahlrecht nicht auf das Mittel des politischen Massenstreiks verzichten. In Belgien hatten die Gewerkschaften durch den Generalstreik von 1893 den Arbeitern zwar den Zutritt zur Volksvertretung erkämpft, dies aber nur in der das Proletariat diskriminierenden, das Bürgertum privilegierenden Form eines Pluralstimmrechts. Im April 1901 bekannte sich ein Parteitag der Sozialisten dazu, im Notfall auch mit Hilfe von Generalstreik und Straßenunruhen das allgemeine gleiche Wahlrecht zu erzwingen. Ein Jahr später kam es, ausgelöst durch die Parlamentsdebatten über die Wahlrechtsreform, in vielen belgischen Städten zu Protesten der Arbeiter und zu blutigen Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Polizei. Die Unruhen eskalierten, als sich am 19. April 1902 die Nachricht verbreitete, daß das Parlament die von den Sozialisten geforderte Wahlrechtsreform abgelehnt hatte. In Löwen machte die Bürgergarde von der Schußwaffe Gebrauch; sechs Tote und viele Verwundete waren zu beklagen. Hätten die Sozialisten die Aktionen fortgesetzt, wäre das der Auftakt zum Bürgerkrieg gewesen. Die Partei wollte die Verantwortung dafür nicht übernehmen und rief die Streikenden auf, an ihre Arbeitsplätze zurückzukehren. Der Appell wurde mit großer Disziplin befolgt; die Sozialistische Partei nahm durch den Abbruch des Kampfes keinen Schaden.
Ein Generalstreik zur Durchsetzung des allgemeinen Wahlrechts
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