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Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Titel: Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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fand im Frühjahr 1902 auch in Schweden statt, aber anders als in Belgien nicht als spontane Aktion, sondern von der Sozialdemokratischen Partei bewußt geplant und organisiert. Drei Tage lang ruhte vom 15. bis 17. Mai im ganzen Land die Arbeit. Der Reichstag aber ließ sich dadurch nicht beeindrucken: Es blieb noch sieben Jahre lang beim Ausschluß großer Teile der Arbeiterschaft vom Wahlrecht. Ein Jahr später scheiterte auch in den Niederlanden ein Generalstreik, zu dem die beiden sozialdemokratischen Parteien, die Sociaaldemokratisch Partij in Nederland und die Sociaaldemokratisch Arbeid Partij, aufgerufen hatten, um gegen ein von der Regierung angekündigtes Streikverbot für Eisenbahner und Arbeiter in Staatsbetrieben zu protestieren. Wie in Belgien wurden die Aktionen abgebrochen, als sich ein Umschlag des politischen Massenstreiks in einen Bürgerkrieg abzuzeichnen begann. Aber anders als im südlichen Nachbarland wurden die zerstrittenen sozialistischen Parteien und die Gewerkschaften durch den Fehlschlag des Ausstands nachhaltig geschwächt.
    Die Erfahrungen der Jahre 1902 und 1903 dienten nicht dazu, die Zahl der Befürworter eines Generalstreiks innerhalb der Internationale zu vermehren. Der Amsterdamer Kongreß vom August 1904 verabschiedete auf Drängen vor allem der niederländischen Delegierten eine Resolution, die den politischen Massenstreik in Ausnahmefällen wie der Durchsetzung bedeutender gesellschaftlicher Veränderungen oder der Abwehr reaktionärer Anschläge auf die Rechte der Arbeiter zwar für möglich erklärte, vor der anarchistischen Propaganda für den Generalstreik aber ausdrücklich warnte. Wenige Wochen später, im September 1904, brach in Italien eine politische Streikbewegung aus, die sich rasch zum Generalstreik ausweitete. Das auslösende Moment war das brutale Vorgehen der Polizei in Sardinien und Sizilien, die bei den Unruhen in einigen Orten auf die demonstrierende Menge geschossen hatte. Ein klar umrissenes politisches Ziel verfolgte der spontane Ausstand nicht. Er wurde abgebrochen, als der liberale Ministerpräsident Giolitti das Versprechen abgab, bei künftigen sozialen Konflikten nicht mit Waffengewalt gegen die Arbeiter vorzugehen, und darauf verzichtete, das Militär gegen die Streikenden einzusetzen. Als politischer Sieger fühlte sich der syndikalistische Flügel der Sozialisten um Arturo Labriola, der als erster zum allgemeinen politischen Streik aufgerufen hatte. Der Partei als ganzer aber schadete der Generalstreik: Bei den von der Regierung Giolitti angeordneten Neuwahlen im Oktober 1904 mußte sie, ebenso wie Parteien der bürgerlichen Linken, starke Stimmeneinbußen hinnehmen.
    Zu einer Zäsur in der sozialistischen Debatte über das Für und Wider des politischen Streiks wurde das Jahr 1905. In der ersten russischen Revolution und ihrer Folgerevolution, der finnischen, zeigte sich, daß Massenstreiks, die sich zum Generalstreik ausweiteten, der Sache der Arbeiterklasse förderlich sein konnten . Die Sache, um die es ging, mußte allerdings so allgemein und populär sein, wie sie es 1904 im Zarenreich und kurz darauf in Finnland war. Selbst die deutschen Sozialdemokraten, die im Jahr zuvor auf dem Kongreß der Internationale in Amsterdam dem Passus über den politischen Massenstreik nur widerstrebend zugestimmt hatten, begannen nun umzudenken. Im September 1905, also noch vor dem russischen Oktobermanifest und dem finnischen Generalstreik vom November, stimmte der sozialdemokratische Parteitag in Jena mit großer Mehrheit einem Antrag Bebels zu, der eine massenhafte Arbeitseinstellung als eines der wirksamsten Mittel bezeichnete, wenn es galt, einen Anschlag auf das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht oder das Koalitionsrecht abzuwehren. Im gleichen Sinn hatte sich bereits auf dem Bremer Parteitag von 1904 der Revisionist Eduard Bernstein ausgesprochen.
    Die Jenenser Entschließung war auch eine Antwort auf das kategorische Nein, das die Freien Gewerkschaften auf ihrem Kölner Kongreß Ende Mai 1905 dem Generalstreik entgegengesetzt hatten. Bebel wollte den politischen Streik nicht als offensive, sondern nur als defensive Waffe anwenden, aber auch das ging den Freien Gewerkschaften zu weit. Sie empfanden den Beschluß von Jena als Bevormundung und rangen in vertraulichen Gesprächen der sozialdemokratischen Parteiführung eine weitgehende Selbstkorrektur ab: Ein Generalstreik sei gegenwärtig nicht aktuell, und ohne Zustimmung der

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