Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
vergehen, bis die Rufe der Agrarier erhört wurden. Aber ihr Widersacher im Kanzleramt arbeitete ihnen ungewollt in die Hände. Die Handelsverträge und einige innere Reformen wie das Verbot der Kinder- und Sonntagsarbeit, die Entwicklung von Gewerbegerichten mit paritätischer Beteiligung der Arbeitgeber und Arbeitnehmer und eine progressive Einkommensteuer in Preußen sprachen zwar für den Erneuerungswillen Caprivis und die Ernsthaftigkeit des «Neuen Kurses» in der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Aber immer wieder unterliefen dem regierenden General grobe taktische Fehler. Schon im März 1892 trat er als preußischer Ministerpräsident zurück, nachdem er zuvor das Zentrum und die Deutsche Freisinnige Partei durch seine Schulpolitik in Preußen verprellt hatte: die Linksliberalen durch die Einbringung eines kirchenfreundlichen Gesetzentwurfs, die Katholiken dadurch, daß er die Vorlage wieder zurückzog.
Im Jahr darauf scheiterte der Kanzler mit einer Heeresvorlage, die auf eine Vermehrung der Heeresstärke bei gleichzeitiger Kürzung der Dienstzeit von drei auf zwei Jahre hinauslief. Caprivis Antwort war die Auslösung des im Februar 1890 gewählten Reichstags. Bei der Neuwahl im Juni 1893 schnitten die Befürworter der Vorlage, die ehemaligen «Kartellparteien» von 1887, also Deutschkonservative, Freikonservative und Nationalliberale, gut, die Gegner, außer den Sozialdemokraten, schlecht ab, am schlechtesten die Freisinnigen, die sich über der Heeresvorlage gespalten hatten: in die militärkritische Mehrheit um den Parteivorsitzenden Eugen Richter, die als Freisinnige Volkspartei antrat, und die wehrfreundliche Minderheit der ehemaligen «Sezessionisten» um Ludwig Bamberger, die sich nun Freisinnige Vereinigung nannte.
Der neue Reichstag nahm die Heeresvorlage an. Die Position des Reichskanzlers festigte sich dadurch aber nur vorübergehend. Im folgenden Jahr kam es zu einem schweren Konflikt zwischen Caprivi und dem hochkonservativen preußischen Ministerpräsidenten Graf Botho zu Eulenburg, der ein von Kaiser Wilhelm II. gefordertes neues Ausnahmegesetz gegen die Sozialdemokratie und überdies gegen die Sozialdemokraten gerichtete Staatsstreichspläne des Monarchen unterstützte, während Caprivi beide Vorhaben ablehnte. Wilhelm II. beendete die Auseinandersetzung zwischen den beiden Berliner Regierungen dadurch, daß er im Oktober 1894 den Reichskanzler wie den preußischen Ministerpräsidenten entließ und den ehemaligen bayerischen Ministerpräsidenten und bisherigen Statthalter im Reichsland Elsaß-Lothringen, Chlodwig von Hohenlohe-Schillingsfürst, zum Nachfolger in beiden Ämtern ernannte.
Der damals 75 Jahre alte Hohenlohe sollte nach dem Willen des Kaisers eine scharfe Rechtsschwenkung vollziehen: eine Politik, für die sich der gemäßigt liberale süddeutsche Katholik aus freien Stücken wohl kaum entschieden hätte, die einzuschlagen er sich nun aber verpflichtet fühlte. Erfolg im Kampf gegen die Sozialdemokratie hatte er damit nicht. Die «Umsturzvorlage» vom Dezember 1894, die den Aufruf zum Klassenhaß und Beschimpfungen von Monarchie, Religion, Ehe, Familie und Eigentum mit strengen Strafen bedrohte, wurde, um dem Entwurf die Zustimmung des Zentrums zu sichern, in den Ausschußberatungen noch um einen Punkt erweitert: die Strafbarkeit der Beschimpfung von Lehren der Kirche. Ebendieser Zusatz machte es den Nationalliberalen unmöglich, der «Umsturzvorlage» zuzustimmen. Der Reichstag lehnte sie im Mai 1895 mit großer Mehrheit ab.
Vier Jahre später unternahm die Reichsleitung einen neuen Anlauf zur gesetzlichen Bekämpfung der Sozialdemokratie. Die «Zuchthausvorlage» sah verschärfte Strafen für den Versuch vor, Arbeiter zur Beteiligung an einem Streik oder zur Betätigung in einer Gewerkschaft zu zwingen. Außer den beiden konservativen Parteien stimmte aber keine Fraktion dem Gesetzentwurf zu, so daß er der Ablehnung verfiel. Rechtliche und faktische Diskriminierungen von Anhängern der Sozialdemokratie aber gab es auch weiterhin, in Preußen etwa in Gestalt der «Lex Arons» vom Juni 1898, der auch das Zentrum zustimmte: Sie zielte darauf ab, Sozialdemokraten von jeder Art von akademischem Lehramt auszuschließen.
Gegen die Sozialdemokratie richtete sich auch die «Sammlungspolitik», wie sie der nationalliberale preußische Finanzminister Johannes von Miquel betrieb, der in seiner Jugend ein Mitstreiter von Karl Marx gewesen war. Gesammelt werden sollten alle Kräfte, die
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