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Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Titel: Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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gegen England sein. Zugleich aber war der deutsche Flottenbau gegen einen inneren Gegner gerichtet: die Sozialdemokratie. Ende 1895 machte Tirpitz in einem Brief an den Chef der Kaiserlichen Admiralität, General von Stosch, aus diesem Beweggrund keinen Hehl. Deutschland müsse, so schrieb er, zur Weltpolitik übergehen «nicht zu geringem Grade aber auch deshalb, weil in der neuen großen nationalen Aufgabe und dem damit verbundenen Wirtschaftsgewinn ein starkes Palliativ gegen gebildete und ungebildete Sozialdemokraten liegt».
    Um parlamentarische Mehrheiten für seine Flottengesetze zu gewinnen, verschaffte sich Tirpitz zunächst einen festen Rückhalt in der öffentlichen Meinung. Sein wichtigstes Instrument war dabei der im April 1898 gegründete Deutsche Flottenverein, eine «pressure group», die es an professionellem Geschick mit dem Bund der Landwirte aufnehmen konnte und ein drei Jahre älteres Vorbild in Großbritannien hatte: die Navy League. Neben den unmittelbaren Interessenten aus Schwerindustrie, Werften, Groß- und Überseehandel und Exportbranchen beteiligten sich die politischen Parteien von den Freikonservativen über die Nationalliberalen bis zur Freisinnigen Vereinigung, aber auch breite bürgerliche und kleinbürgerliche Schichten an den Aktivitäten des Verbands. Im Jahre 1900 zählte er bereits 270.000 Mitglieder, rechnete man die korporativen Mitglieder (also die Mitglieder der Organisationen, die sich dem Flottenverein angeschlossen hatten) hinzu, so übersprang er 1908 sogar die Millionengrenze.
    Tirpitz’ erstes Flottengesetz, das vom Reichstag Ende März 1898 gegen die Stimmen der SPD, der Freisinnigen Volkspartei, der nationalen Minderheiten und einer Minderheit des Zentrums angenommen wurde, sah innerhalb von sechs Jahren eine Verstärkung der Kriegsmarine auf 19 Linienschiffe, 8 Küstenpanzerschiffe, 12 große und 30 kleine Kreuzer vor. Zwei Jahre später, im Juni 1900, stimmte der im Juni 1898 neugewählte Reichstag einer Vorlage des Reichsmarineamtes zu, die den Flottenbestand faktisch verdoppelte. Nach Abschluß des Programms hätte sich die Stärke der deutschen Schlachtflotte zu jener der britischen wie zwei zu drei verhalten. Auf die Nordsee bezogen hätte das Parität bedeutet. Das Gesetz von 1898 war also nur die erste Etappe einer weit ausgreifenden Planung gewesen: Spätestens seit 1900 konnte es daran keinen Zweifel mehr geben.
    Die Machtelite, bei der sich die Flotte der geringsten Beliebtheit erfreute, war der preußische Rittergutsbesitz. Die deutsche Schlachtflotte stand für die moderne Welt des Handels und der Industrie – für die Welt, vor der sich das ländliche Ostelbien fürchtete. Einfach Nein zu sagen war für die Konservativen freilich auch nicht möglich, sie wären sonst in die Nachbarschaft der Freisinnigen Volkspartei und der Sozialdemokraten geraten. Infolgedessen bestanden die Konservativen auf Kompensationen. Für die Zustimmung zum zweiten Flottengesetz von 1900 forderten und erhielten sie das Versprechen einer Erhöhung der Getreidezölle. Im Dezember 1902 löste Hohenlohes Nachfolger, der seit Oktober 1900 amtierende Reichskanzler Bernhard von Bülow, dieses Versprechen in Form des «Bülow-Tarifs» ein. Dieser vom Reichstag mit großer Mehrheit angenommene Tarif trat am 1. März 1906 in Kraft und gewährte den Agrariern höhere Zölle für Weizen, Roggen und Hafer. (Daß der Bund der Landwirte und die Deutschkonservativen noch sehr viel höhere Zölle gefordert hatten, verstand sich von selbst). Auf dem sozialimperialistischen Umweg über die Flotte, das Vehikel der deutschen Weltpolitik, war damit das wichtigste Ziel von Miquels Sammlungspolitik erreicht: die zollpolitische Verständigung von Industrie und Landwirtschaft. Miquel erlebte diesen Triumph nicht mehr: Er war im September 1901 gestorben.
    Den vorläufigen Ausgang der innenpolitischen Auseinandersetzungen um die deutsche Kriegsflotte hat der Historiker Eckart Kehr, der Autor der ersten kritischen Studie über die gesellschaftlichen Grundlagen der deutschen Sammlungs- und Flottenpolitik, 1928 folgendermaßen zusammengefaßt: «Industrie und Landwirtschaft einigten sich darauf, den Staat nicht jeder für sich allein zu beherrschen und den Unterliegenden von dem Nießnutz der Gesetzgebungsmaschine auszuschalten, sondern ein agrarisch-industrielles Kondominium mit der Spitze gegen das Proletariat zu errichten.»
    Sieben Jahre vor der Verabschiedung des Bülow-Tarifs, im Mai 1895, hatte der

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