Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
damals einunddreißigjährige Nationalökonom Max Weber in seiner Antrittsvorlesung an der Universität Freiburg im Breisgau die politische Unreife des deutschen Bürgertums beklagt, das jetzt, wo sich unübersehbar der «ökonomische Todeskampf des alten preußischen Junkertums» vollziehe, den nötigen Machtinstinkt vermissen lasse. Den Grund der Unreife sah Weber in der unpolitischen Vergangenheit des deutschen Bürgertums, einem Erbe der Herrschaft Bismarcks. Dieses Erbe lag als langer Schatten über der Generation bürgerlich erzogener Deutscher, der Weber angehörte: «An unserer Wiege stand der schwerste Fluch, den die Geschichte einem Geschlecht als Angebinde mit auf den Weg zu geben vermag: das harte Schicksal des politischen Epigonentums.» Es gab Weber zufolge nur ein Mittel, sich von diesem Fluch zu lösen, und das war politische Erziehung durch Weltpolitik nach dem Vorbild älterer Großmächte wie England und Frankreich. «Entscheidend ist auch für unsere Entwicklung, ob eine große Politik uns wieder die Bedeutung der großen politischen Machtfragen vor Augen zu stellen vermag. Wir müssen begreifen, daß die Einigung Deutschlands ein Jugendstreich war, den die Nation auf ihre alten Tage beging und seiner Kostspieligkeit halber besser unterlassen hätte, wenn sie der Abschluß und nicht der Ausgangspunkt einer deutschen Weltmachtpolitik sein sollte.»
In gewisser Weise schien auch für Weber die Weltpolitik ein sozialimperialistischer Umweg zu sein, aber nicht, um im Sinne der Miquelschen Sammlungspolitik Bürgertum und Junkertum fester aneinander zu schmieden, sondern, im Gegenteil, um dem Bürgertum die Dynamik zu verleihen, die es brauchte, wenn es die politische Macht des Junkertums brechen wollte. Doch der Umweg war zugleich auch das Ziel: In Weltpolitik sah der liberale Nationalist Weber die Bestimmung jeder großen Nation. Webers deutscher Nationalismus entzündete sich vor allem an den Problemen des deutschen Ostens oder, genauer gesagt, an der wachsenden Bedeutung von Wanderarbeitern aus Russisch-Polen für die ostelbischen Güter. Polnische Saisonarbeiter traten zunehmend an die Stelle deutscher Tagelöhner, die der alten patriarchalischen Gutsverhältnisse überdrüssig waren und in den industrialisierten Westen des Reiches, vor allem ins Ruhrgebiet, abwanderten. «Großbetriebe, welche nur auf Kosten des Deutschtums zu erhalten sind, sind vom Standpunkt der Nation wert, daß sie zugrunde gehen», folgerte Weber. Sie mußten mithin sich selbst überlassen bleiben und durften nicht durch Schutzzölle auf Kosten der Gesamtheit künstlich am Leben erhalten werden.
1893 war Max Weber dem zwei Jahre zuvor gegründeten Alldeutschen Verband (ADV) beigetreten, weil er hoffte, in dieser extrem nationalistischen Vereinigung Unterstützung für die von ihm für richtig befundene Politik zu finden: die Schließung der Ostgrenze und die Ansiedlung deutscher Bauern, deren nationale Aufgabe es war, den deutschen Osten vor polnischer Überflutung zu retten. Da der Alldeutsche Verband aus Rücksicht auf seine großagrarischen Mitglieder eine klare Stellungnahme zum Rittergutsbesitz vermied, erklärte Weber 1899 seinen Austritt, blieb aber den nationalen und weltpolitischen Zielen des ADV weiter verbunden.
Der Alldeutsche Verband, der militanteste der imperialistischen Agitationsverbände der Wilhelminischen Ära, war mit etwa 20.000 Mitgliedern im Jahr 1900 sehr viel weniger groß als der Deutsche Flottenverein, übte aber starken Einfluß auf die Meinungsbildung im nationalliberalen und konservativen Bürgertum aus. Er war aus der Kolonialbewegung hervorgegangen und eng mit der rheinisch-westfälischen Schwerindustrie verbunden, unterstützte die «deutschnationalen Bestrebungen» der Auslandsdeutschen und namentlich der Groß- und Alldeutschen in Österreich und verlangte bereits 1894 ein deutsch beherrschtes Mitteleuropa und den Übergang Deutschlands von der «Großmachtstellung» zur «Weltmachtstellung». Er unterhielt enge Beziehungen zum Verein für das Deutschtum im Ausland, der aus dem 1880 in Österreich gegründeten Deutschen Schulverein hervorgegangen war, und ebenso mit dem 1894 entstandenen Deutschen Ostmarkenverein, der auf die Enteignung des polnischen Grundbesitzes und die Ansiedlung deutscher Bauern in den Ostprovinzen hinarbeitete.
Die offizielle deutsche Außenpolitik blieb unter den Erwartungen des radikalen Nationalismus im allgemeinen zurück, verheimlichte ihre weltpolitischen
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