Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
1913 schied Raymond Poincaré aus dem Amt des Ministerpräsidenten, aber nicht infolge eines Mißtrauensvotums, sondern weil er als Kandidat der Mitte und der Rechten in ein zumindest protokollarisch noch höheres Amt gewählt wurde: das des Präsidenten der Republik. Der damals zweiundfünfzigjährige Rechtsanwalt aus Bar-le-Duc, ein «klassischer» Repräsentant der Bourgeoisie, war von Anfang an entschlossen, aus seinem Amt mehr zu machen als seine Vorgänger, allen voran der politisch farblose Armand Fallières, der von 1906 bis 1913 an der Spitze der Republik stand. Seit der Mac-Mahon-Krise von 1877 hatten die Präsidenten der Republik ihre großen Amtsbefugnisse nicht mehr voll ausgeschöpft. Auch Poincaré dachte nicht daran, von der politisch brisantesten der präsidialen Vollmachten, der Auflösung des Parlaments, ohne große Not Gebrauch zu machen. Aber angesichts der Tatsache, daß die meisten Regierungen schon nach wenigen Monaten wieder zu Fall kamen, wollte er aus dem Amt des Präsidenten einen Hort der Stabilität, der Kontinuität und der Autorität und damit einen Gegenpol zum notorisch schwachen Kabinett machen. An der Stärkung der Exekutive auf Kosten der Legislative lag ihm schon aus außenpolitischen Gründen, und auf diesem Gebiet behielt er auch als Staatsoberhaupt mit Hilfe seines engen Freundes Maurice Paléologue, des Direktors der politischen Abteilung des Quai d’Orsay, die Zügel in der Hand, gleichviel wer gerade Ministerpräsident oder Außenminister war. Es ist mithin keine Übertreibung, Poincarés Wahl eine Zäsur in der Geschichte der Dritten Republik und einen Fall von stillem Verfassungswandel zu nennen.
Erste außenpolitische Akzente setze Präsident Poincaré, als er bald nach seinem Amtsantritt die Ernennung des schroff antideutschen und entschieden prorussischen Théophile Delcassé zum Botschafter in St. Petersburg durchsetzte und wenig später London, im Herbst 1913 auch Madrid einen Staatsbesuch abstattete. Die wichtigste innenpolitische Streitfrage des Jahres 1913 war die «Loi des trois ans» (Gesetz der drei Jahre): Am 30. Juni hatte der deutsche Reichstag die von der Reichsleitung geforderte stufenweise Vermehrung des Heeres um 136.000 Mann beschlossen, wodurch sich die Sollstärke des Heeres bis zum Oktober 1915 auf 816.000 erhöhen sollte. Die Antwort der französischen Regierung, des Kabinetts Barthou, war die Erhöhung der Sollstärke der Streitkräfte von 480.000 auf 650.000 Mann – ein Ziel, das angesichts der unterschiedlichen Bevölkerungsgrößen (Deutschland zählte um diese Zeit über 65 Millionen, Frankreich knapp 40 Millionen Menschen) nur zu erreichen war, wenn die Dienstzeit, die erst im März 1905 von drei auf zwei Jahre herabgesetzt worden war, wieder auf drei Jahre angehoben wurde. (In Deutschland belief sich die Dienstzeit bei der Infanterie seit 1893 auf zwei Jahre).
Die Vorlage war höchst umstritten: Sozialisten und Gewerkschaften bekämpften sie vehement; auch der kurz zuvor von der linken Mitte zu den Radicaux übergetretene Caillaux gehörte zu ihren entschiedenen Gegnern. Dennoch stimmten am 19. Juli die Deputiertenkammer und am 7. August 1913 der Senat der Loi des trois ans zu. Die Einführung einer progressiven Einkommenssteuer aber, für die sich besonders Caillaux einsetzte, scheiterte am hartnäckigen Widerstand der wehrfreundlichen Rechten. Anfang Dezember stürzte darüber die Regierung Barthou. Der «logische» Nachfolger wäre Joseph Caillaux gewesen, den Poincaré aber keinesfalls ernennen wollte. Statt seiner wurde der radikale Senator Gaston Doumergue, der für das Heeresgesetz gestimmt hatte, neuer Ministerpräsident. Caillaux übernahm das Finanzministerium.
Im April und Mai 1914 standen Parlamentswahlen an. Im Wahlkampf formierte sich, von Poincaré gefördert, ein «Linksbündnis» (Fédération de la gauche) um Briand und Barthou, das, entgegen seinem Namen, eine weitere Gruppierung der Mitte war. Auf der Linken verbündeten sich die Radicaux um Caillaux mit den Sozialisten um Jaurès. Ihre antinationalistische und antimilitaristische Propaganda, die sich auch gezielt gegen Poincaré wandte, zahlte sich aus. Da es keine offizielle Statistik mit Blick auf die Parteizugehörigkeit der Gewählten gab, schwanken die Angaben über die Sitzverteilung. Die Radikalsozialisten blieben die mit Abstand stärkste Fraktion, die eigentliche Wahlsiegerin aber war die S.F.I.O., die von 68 auf 104 Mandate anstieg. Briands Fédération de
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