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Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Titel: Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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la gauche gehörte mit 23 Abgeordneten zu den Verlierern, ebenso die Parteien der äußersten Rechten. An der Linksmehrheit in der neuen Deputiertenkammer gab es nichts zu deuteln.
    Neuer Ministerpräsident wurde am 9. Juni an der Spitze eines Kabinetts mit überwiegend radikalen Ministern der Unabhängige Sozialist René Viviani, so daß einem «rechten» Präsidenten nun eine «linke» Regierung gegenüberstand: eine Konstellation, die man viele Jahrzehnte später, in der Fünften Republik, «cohabitation» nannte. Viviani war bereit, es bei der dreijährigen Dienstzeit zu belassen. Im Gegenzug stellten Poincaré und die Rechte ihre Bedenken gegen die progressive Einkommenssteuer zurück; für ihre Einführung stimmten auch die Sozialisten, so daß sie in den beiden Kammern eine breite Mehrheit erhielt. Die Regierung Viviani war noch keine drei Wochen im Amt, als am 28. Juni im fernen Sarajewo die Schüsse fielen, die die Welt verändern sollten. Fünf Wochen später befand sich Frankreich im Krieg mit Deutschland.[ 30 ]

Demokratisierung und Expansion: Italien in der Ära Giolitti
    Wenn Frankreich, verglichen mit England und Deutschland, zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch immer ein Agrarland war, dann traf das erst recht für Italien zu, die mit knapp 35 Millionen Einwohnern im Jahre 1911 kleinste der europäischen Großmächte (das europäische Rußland zählte um diese Zeit 122, Deutschland 65, das Habsburgerreich 51, Großbritannien 41 und Frankreich 39 Millionen Einwohner). 1911 waren noch 55,4 Prozent der italienischen Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig (4,1 Prozent weniger als 1901), während 26,9 Prozent in der Industrie beschäftigt waren (ein Plus von 2,4 Prozentpunkten). Auf die Landwirtschaft entfielen 1908 43,2 Prozent, auf die Industrie 26,1 Prozent des privaten Volkseinkommens; 1900 hatten die entsprechenden Anteile noch bei 51,2 und 20,2 Prozent gelegen. Die Veränderungen innerhalb eines so kurzen Zeitraums belegen, daß sich auf der Apenninenhalbinsel zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein rasanter Strukturwandel vollzog: Italien erlebte zwischen 1895 und 1900 seine Industrielle Revolution.
    Von Staats wegen wurde durch Schutzzölle und direkte Subventionen vor allem die Schwerindustrie gefördert, die zu sehr viel höheren als den Weltmarktpreisen produzierte und zur stärksten Wachstumsbranche wurde. In der zweiten Hälfte der neunziger Jahre entstanden die Stahlwerke in Piombino und auf Elba; 1899 gründete Giovanni Agnelli die Fiat-Automobilwerke in Turin. Die meisten Beschäftigten aber zählte immer noch die Seidenindustrie, die auch sehr viel mehr exportierte als die Eisen- und Stahlindustrie und anders als diese nur wenig von den Schutzzöllen profitierte, wenn sie nicht sogar dadurch geschädigt wurde. ähnliches ließ sich auch mit Blick auf die Wachstumsbranchen der chemischen, metallverarbeitenden und der mechanischen Industrie sagen. Die meisten Betriebe waren nach wie vor Kleinbetriebe, und noch immer war die Industrialisierung ein ganz überwiegend nord- und mittelitalienisches Phänomen. Der agrarische Mezzogiorno litt weiterhin unter seiner strukturellen Unterentwicklung und stellte den Hauptteil der Auswanderer: Allein im Jahre 1905 verließen 500.000 Italiener das Land, die meisten in Richtung Nord- und Südamerika, um dort Arbeit zu suchen. Die Landwirtschaft als ganzes trug freilich erheblich zu der Kapitalakkumulation bei, die die forcierte Industrialisierung erst ermöglichte. Dasselbe galt vom neuen Typ der «banca mista», die sich unmittelbar an Großkonzernen beteiligte (wie die Banca commerciale in der Eisenindustrie).
    Politisch fiel die Zeit der Industriellen Revolution Italiens, die zugleich die Zeit der Belle époque war, überwiegend in die «Ära Giolitti». Der Piemontese Giovanni Giolitti, der eine Beamtenkarriere hinter sich hatte, bevor er 1883 Parlamentarier wurde, war erstmals 1892/93 Ministerpräsident gewesen; im ersten Kabinett Zanardelli hatte er von Februar 1901 bis Mai 1903 das Amt des Innenministers inne; nach dem Tod Zanardellis im November 1903 trat er dessen Nachfolge als Ministerpräsident und Innenminister an. Er blieb bis 1914 die beherrschende Figur der italienischen Politik; nur in den Jahren 1905/06 und 1910/11 standen für kürzere Zeit andere Politiker aus dem liberalen Lager an der Spitze der Regierung.
    Giolitti, der bedeutendste italienische Staatsmann seit Cavour, war ein Mann der linken Mitte. Auf seine Politik läßt sich ein

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