Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
Begriff aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts anwenden: Er bemühte sich um eine «apertura a sinistra» (Öffnung nach links), indem er den reformistischen Teil der Arbeiterbewegung in die italienische Politik einzubinden versuchte. Dieses Ziel war nur zu erreichen, wenn der Staat sich bei Lohnauseinandersetzungen nicht von vornherein auf die Seite der Unternehmer stellte, sondern die Rolle des ehrlichen Maklers zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern übernahm. Die Löhne der italienischen Arbeiter waren im Vergleich mit den industriell weiter entwickelten Ländern Europas extrem niedrig; der verbreitete Hang zur anarchistischen Gewalt entsprang dem sozialen Elend und entsprach der industriellen Rückständigkeit des Landes. Weil Giolitti sich dieser Zusammenhänge bewußt war, beschränkte er den Einsatz der Polizei bei Streiks auf Fälle schwerwiegender Gesetzesverletzungen und verringerte dadurch zumindest die Zahl der Zusammenstöße, bei denen die Ordnungskräfte von der Schußwaffe Gebrauch machten. Außerdem sorgte die Regierung Giolitti für die Verabschiedung von Gesetzen, durch die Frauen- und Kinderarbeit sowie die Feiertagsund Nachtarbeit eingeschränkt, die Altersversorgung verbessert und ein staatliches Arbeitsbüro (Ufficio nazionale del lavoro) eingerichtet wurden.
Widerstand gegen die neue Politik des sozialen Ausgleichs kam von Industriellen, die, anders als Giolitti, nicht einsehen wollten, daß höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen im wohlverstandenen Eigeninteresse der Unternehmer lagen, vor allem aber von Latifundienbesitzern in der Po-Ebene und im Mezzogiorno. Im Jahre 1902 wurden Streiks der Tagelöhner, Landarbeiter und Halbpächter (mezzadri) der Reisfelder in der Po-Ebene, die sich in gewerkschaftsähnlichen «Ligen» (lighe) zusammengeschlossen hatten, von organisierten Streikbrechergruppen brutal niedergeworfen; in Apulien und Sizilien schossen Polizeikräfte im Herbst desselben Jahres auf Streikende – mit der Folge, daß anschließend die regionalen Netzwerke des organisierten Verbrechens wie Mafia und Camorra ihre Machtpositionen weiter ausbauen konnten. Die Niederlagen der ländlichen Arbeiter und der mit ihnen verbündeten Kleinbauern veranlaßten viele der Betroffenen, verstärkt den Radikalen in der Sozialistischen Partei und den Gewerkschaften Gehör zu schenken, die von kleinen Schritten auf dem Weg zur Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse nichts mehr wissen wollten und stattdessen auf die befreiende Wirkung des einen großen Generalstreiks setzten – der «action directe», von der Georges Sorel 1906 in seinem ebenso antireformistischen wie antiparlamentarischen, den proletarischen Kampf zum Mythos erhebenden Buch über die Gewalt sprach.
Die Sozialistische Partei war, was die Haltung zur Regierung Giolitti betraf, in sich gespalten. Die Reformisten um den Parteiführer Filippo Turati waren für eine Zusammenarbeit bei der Gesetzgebung und unter Umständen bereit, sich an der Regierung zu beteiligen. Die Radikalen oder «Integralisten» um den Publizisten Arturo Labriola, einen revolutionären Syndikalisten, und den Strafrechtsprofessor Enrico Ferri, befürworteten eine konsequente Oppositionspolitik und vertraten damit die Linie, die die Zweite Internationale auf ihrem Pariser Kongreß im September 1900 in der Resolution Kautsky bezogen hatte. Als Giolitti Turati im November 1903 einlud, in die Regierung einzutreten, waren die Radikalen bereits stark genug, um den ersten Mann der Partei zur Absage zu bewegen. Im April 1904 errangen sie auf dem Parteitag in Bologna die Mehrheit.
Fünf Monate später, im September 1904, kam es, ausgelöst durch mehrere Fälle von exzessiver Polizeigewalt gegenüber Demonstranten in Sardinien und Sizilien, zu jenem ersten Generalstreik in Italien, von dem bereits im Zusammenhang mit der Zweiten Internationale die Rede war. Er wurde abgebrochen, nachdem Giolitti zugesagt hatte, daß die Polizei nicht mehr auf streikende oder demonstrierende Arbeiter schießen und das Militär bei solchen Anlässen nicht mehr eingesetzt werden würde. Die Radikalen fühlten sich als Sieger, aber bei den Wahlen, die Giolitti für den Oktober 1904 angeordnet hatte, erlitten die Sozialisten einen Rückschlag: Die Zahl ihrer Abgeordneten sank von 33 auf 27.
Die Wahlen vom Oktober 1904 bewirkten noch eine andere, langfristig wichtige Änderung: Papst Pius X. milderte das «non expedit» von 1874, das Katholiken die Teilnahme an den
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