Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
Wahlen untersagte. In erster Linie, um ein Gegengewicht zu den Sozialisten zu schaffen, erlaubte der Papst der neugebildeten katholischen Wählerorganisation, der Unione elettorale cattolica, eigene Kandidaten aufzustellen, und tatsächlich gelang einigen von ihnen der Einzug ins Parlament. Keinen Erfolg hatte hingegen der Versuch des Priesters Romolo Murri, die von ihm gegründete Lega democratico-nazionale in eine christlich-demokratische Partei zu verwandeln: Die Lega wurde vom Papst verboten, Murri 1909 exkommuniziert. Gentilonis Unione hingegen war keine unabhängige Partei, sondern ein von Pius X. lizenzierter Verein zur Wahrung kirchlicher Interessen. Mehr ließ der Antimodernismus des Papstes nicht zu.
Zwei Jahre nach dem ersten Generalstreik gelang es den Reformisten um Turati und Leonida Bissolati, zumindest vordergründig die Gewerkschaften unter ihre Kontrolle zu bringen: Die neugegründete Confederazione generale del lavoro (Allgemeiner Gewerkschaftsbund) hatte eine rein reformistische Führung. Aber in der Zwischenzeit hatte die syndikalistische Bewegung unter Industriearbeitern, Landarbeitern und Kleinbauern viele Anhänger gefunden. Von Mai bis Juli 1908 erlebte Italien große, fünf Monate anhaltende Landarbeiterstreiks in der Umgebung von Parma, organisiert von Arturo Labriola, der bereits vier Jahre zuvor zum Generalstreik aufgerufen hatte, und Alceste De Ambris, dem Sekretär der Arbeitskammer von Parma. Es waren diese Streiks, bei denen Georges Sorels von dem Philosophen Benedetto Croce in Italien bekannt gemachtes Buch «Réflexions sur la violence» erstmals praktische Wirkung entfaltete.
Einer der aktivsten Mitarbeiter der syndikalistischen Blätter, die Sorels Gedanken propagierten, war ein junger, aber bereits ehemaliger Lehrer aus der Emilia-Romagna, der Parteisekretär von Forlì, Benito Mussolini. Bei Sorel fand er, was er suchte: eine vielseitig anwendbare Theorie der Produktivkraft der Gewalt – eine Theorie, die Marx und Nietzsche, Klassenkampf und Übermenschentum zu versöhnen schien und danach drängte, Praxis zu werden. Die Streiks von 1908 boten die Gelegenheit einer Probe aufs Exempel. Sie verlief negativ. Die Ausstände endeten mit einer Niederlage der Landarbeiter und wirkten sich innerhalb der Sozialistischen Partei zugunsten der Reformisten aus: Auf dem Parteitag in Florenz im September 1908 eroberten sie die vier Jahre zuvor verloren gegangene Mehrheit zurück.
Auch am anderen Ende des politischen Spektrums, auf der äußersten Rechten, vollzogen sich zwischen 1900 und 1914 weitreichende Änderungen. Gegen die «Italietta», das juste milieu der Ära Giolitti, schrieb der neoromantische Dichter Gabriele D’Annunzio, ein Verherrlicher des männlichen Übermenschen, in seinen «Canzoni d’oltremare» an. Die Futuristen um Filippo Tommaso Marinetti, den Verfasser des 1909 veröffentlichten «Manifesto futurista», forderten nicht nur die Abkehr von dem als schwächlich und langweilig empfundenen Parlamentarismus der Ära Giolitti, sondern den Bruch mit allen Arten der Tradition; sie proklamierten stattdessen ein dynamisches und gefährliches Leben, das sich aller Mittel der modernen Technik bediente, um eine neue, heroische Ordnung zu errichten. Für Giuseppe Prezzolini und die von ihm 1905 gegründete Zeitschrift «La Voce» war der bürgerliche, von Giolitti verkörperte «Positivismus» der Feind, den zu überwinden nur einem neuen, kämpferischen Idealismus gelingen konnte, der vor allem eines zu sein hatte: Dienst an der nationalen Erneuerung Italiens.
«Nazionalismo» als Kampfbegriff tauchte erstmals im November 1903 in einem Programmartikel der neu gegründeten Zeitschrift «Il Regno» auf. Der Nationalismus bildete demnach eine Antwort auf den «niederträchtigen Sozialismus» (ignobile socialismo). Einer der Herausgeber des «Regno» war Enrico Corradini. Am 3. Dezember 1910 gründete er im Palazzo Vecchio in Florenz die Associazione Nazionalista Italiana, den Kampfverband der Nationalisten im Vorkriegsitalien, der zwölf Jahre alt wurde und schließlich im Februar 1923 im Partito Nazionale Fascista Mussolinis aufging. In den Einladungen zum Gründungskongreß wurden als Ziele der neuen Vereinigung sehr allgemein die Stärkung der staatlichen Souveränität, der Ausweitung des Handels, die Verbreitung der italienischen Kultur und eine entschiedenere Kolonialpolitik gefordert.
Der Vortrag, den Corradini in Florenz hielt, stand unter dem programmatischen, den
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