Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
Inhalt vorwegnehmenden Titel «Classi proletarie: socialismo, nazioni proletarie: nazionalismo». Die Unterscheidung zwischen proletarischen und bürgerlichen Nationen war grundlegend: Die proletarischen Nationen, zu denen Corradini Italien, aber auch Japan rechnete, mußten sich wie proletarische Klassen ihr Recht erkämpfen; der Klassenkampf wurde damit auf die internationale Ebene gehoben; der Nationalismus wurde zu einem Sozialismus der höheren Ordnung, der den proletarischen Sozialismus gewissermaßen aufhob. Der Nationalismus bekundete damit Corradini zufolge der Nation gegenüber den gleichen Willen zum Sieg, wie ihn der Sozialismus gegenüber dem zunächst seiner selbst unbewußten Proletariat bekundet habe. Sieg war durchaus auch militärisch gemeint. «Wohlan möge der Krieg kommen! Und möge dann der Nationalismus in Italien den Willen zum siegreichen Krieg erwecken» (Ebbene, sia la guerra! E il nazionalismo susciti in Italia la volontà della guerra vittoriosa).
Wie der Alldeutsche Verband, so widmete die Associazione Nazionalista Italiana ihre besondere Aufmerksamkeit den Landsleuten im Ausland, nicht zuletzt in Südamerika. Im Anklang an das berühmte Wort des Abbé Sieyès über den Dritten Stand behauptete Corradini, die Arbeit der Italiener bedeute für Argentinien alles, die Italiener in jenem Land aber bedeuteten nichts. Wie Maurras beschwor Corradini die Erinnerung an die Antike, «unser gewaltiges Erbe, das klassische Altertum» (questo immenso nostro patrimonio, il classicismo). Wie die Action française bekämpfte die Associazione Nazionalista die Freimaurer, die Liberalen und die Linke. Anders aber als die französischen Nationalisten bewunderten Corradini und seine Gefolgsleute Deutschland als das Land einer disziplinierten Armee, das Italien auch darin Vorbild sein konnte, daß es nach Weltgeltung strebte.
Das Bündnis mit dem Deutschen Reich galt darum der Associazione Nazionalista als das einzig natürliche; das Verhältnis zu Österreich hingegen war dadurch belastet, daß das Habsburgerreich noch immer über «unerlöste» italienische Gebiete, wie das Trentino, Triest und Istrien, die «Irredenta», herrschte. Soweit wie Ettore Tolomei ging Corradini allerdings nicht: Der Gymnasiallehrer aus Rovereto machte es sich zur Lebensaufgabe, den italienischen Charakter des fast rein deutschsprachigen Südtirol («Alto Adige») zu beweisen, um auf diese Weise die Forderung nach der Brennergrenze begründen zu können.
Der Irredentismus machte aber nur einen Teil des neuen italienischen Nationalismus aus. Ebenso wichtig, wenn nicht wichtiger war das Interesse an der Ausweitung des italienischen Einflusses in Übersee, vor allem an der nordafrikanischen Gegenküste. «Nehmen wir einmal an», erklärte Corradini auf dem Gründungskongreß der Associazione Nazionalista, «das nächstgelegene Afrika wäre italienisch. Glauben Sie, die innenpolitische Frage Siziliens wäre heute die gleiche? Und ich füge hinzu: glauben Sie, sie wäre die gleiche für den ganzen Süden und für ganz Italien? Wäre Afrika vielmehr unter italienischer statt unter französischer Herrschaft, glauben Sie, das hätte Sizilien und den Süden und Italien unter denselben Bedingungen gelassen, unter denen sie geblieben sind? Aber das ganze Leben der Insel wäre durch jene Ausweitung der italienischen Herrschaft jenseits des schmalen Meeres wieder der Halbinsel angenähert und angepaßt worden. Und das ganze Leben der Insel und des Südens der Halbinsel wäre neu durchglüht worden, und gewiß wären viele sogenannte innere Fragen, die noch immer unter der Sonne faulen und durch die wir in Fäulnis aufgehen, gelöst worden. Sie wären gelöst worden, hätte man sie als äußere Fragen betrachtet.»
Ein Dreivierteljahr nach der Gründung der Associazione Nazionalista Italiana wurde aus der sozialimperialistischen Kriegsrhetorik blutiger Ernst. Am 29. September 1911 erklärte Italien dem Osmanischen Reich, nachdem dieses sich einem römischen Ultimatum nicht gebeugt hatte, mit der fadenscheinigen Begründung den Krieg, daß anders die italienischen Interessen in Libyen, dem letzten türkischen Territorium auf nordafrikanischem Boden, nicht wirksam zu schützen seien. Die Aktion war diplomatisch gut vorbereitet: Nach der Abstimmung der wechselseitigen Interessensphären in Nordafrika mit Frankreich Ende 1900 hatte Italien sich im Oktober 1909 in einem Geheimabkommen mit Rußland über die Balkan- und Mittelmeerinteressen
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