Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Titel: Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
Vom Netzwerk:
ankündigte und an der keiner Partei so viel lag wie den Sozialisten. Der Regierung in einer solchen Situation den Kampf anzusagen erschien einigen der Reformisten, auch wenn sie gegen den Krieg waren, inopportun. Aus ebendiesem Grund stimmten Bissolati und Ivanoe Bonomi, der parlamentarische Führer der Reformisten, entgegen dem Willen Turatis für die von der Regierung geforderten Kriegskredite.
    Die Abrechnung mit den Abweichlern erfolgte auf dem Parteikongreß von Reggio Emilia im Juli 1912. Die Radikalen eroberten die Mehrheit zurück, die sie vier Jahre zuvor verloren hatten; Bonomi und Bissolati wurden aus der Partei ausgeschlossen; die Redaktion des «Avanti» übernahm an Stelle von Claudio Treves, Turatis engstem Mitarbeiter, Mussolini, der dem Blatt binnen kurzem zu einer Verdreifachung seiner Auflage verhalf. Die Parlamentsfraktion der Sozialisten spaltete sich: 17 ihrer 42 Mitglieder schlossen sich dem von Bissolati und Bonomi gegründeten Partito Socialista riformista Italiano an.
    Mit dem Ergebnis der Krieges haderte auch die extreme Rechte, die für eine völlige Zerschlagung des Osmanischen Reiches eingetreten war: ein Verlangen, auf das sich der «Realpolitiker» Giolitti schon im Hinblick auf die Balkaninteressen des Landes nicht einlassen konnte. Die Opposition von links und rechts gefährdete nicht das wichtigste innenpolitische Anliegen der Regierung Giolitti: die Wahlrechtsreform. Das Gesetz, das die Deputiertenkammer am 25. Mai und der Senat am 29. Mai 1912 verabschiedeten, brachte Italien ein annähernd allgemeines Wahlrecht: An der Wahl der Deputiertenkammer durften fortan alle Männer teilnehmen, die das 30. Lebensjahr vollendet oder Wehrdienst geleistet hatten, wobei im letzteren Fall ein Mindestalter von 21 Jahren galt. Das Wahlrecht galt also auch für Analphabeten, denen das vorangegangene Kabinett Luzzatti dieses Recht nicht hatte geben wollen. Die Zahl der Wahlberechtigten stieg dadurch von 3,3 auf 8,7 Millionen oder von 9,5 auf 24,5 Prozent der Bevölkerung.
    Die Wahlrechtsreform bedeutete für Italien den Durchbruch zum Regimetyp der parlamentarischen Demokratie. Die verbliebenen Einschränkungen lagen in der altersmäßigen Abstufung des Wahlrechts, dem Ausschluß der Frauen vom Wahlrecht und der Tatsache, daß die Mitglieder der ersten Kammer, des Senats, nach wie vor vom König ernannt wurden. Aber vergleichbare Vorbehalte kannten auch andere parlamentarische Monarchien, obenan England. In Sachen Wahlrecht war Italien nun fast so demokratisch wie Deutschland, und anders als dieses kannte es seit langem die parlamentarische Verantwortlichkeit der Regierung.
    Dem Verfassungsrecht nach war das Königreich Italien mithin seit 1912 eine «westliche» Demokratie. Die Verfassungswirklichkeit sah anders aus. Niemand vermochte vorherzusagen, wie die Massen der Analphabeten mit dem Wahlrecht umgehen würden. Dank der Anstrengungen der Regierungen der Ära Giolitti war zwar die Zahl der Italiener, die nicht lesen und schreiben konnten, zwischen 1901 und 1911 deutlich gesunken (in Sizilien von 71 auf 58, in Apulien von 70 auf 59, in Kampanien von 65 auf 54, im nationalen Durchschnitt von 57 auf 46 Prozent der Bevölkerung), aber noch immer war der Mezzogiorno in dieser Hinsicht so unterentwickelt, daß es schwerfällt, das Italien der Vorkriegszeit vorbehaltlos den «westlichen» Gesellschaften zuzuordnen.
    Eine andere Hypothek war der jahrzehntelange, von «oben» angeordnete Wahlboykott der kirchentreuen Katholiken. Wenige Wochen vor der auf Ende Oktober 1913 angesetzten Wahl der Deputiertenkammer wurde auf Veranlassung von Papst Pius X. der nach dem Vorsitzenden der Unione elettorale cattolica, dem Grafen Vincenzo Ottorino Gentiloni, benannte «Patto Gentiloni» abgeschlossen. Darin versprach die Laienorganisation (und durch sie die Kirche) die Unterstützung solcher liberaler Kandidaten, die sich ihrerseits bestimmte Forderungen der katholischen Kirche, unter anderem im Bereich der Schul- und Familienpolitik, zu eigen machten. Das vor der Wahl geheim gehaltene Abkommen richtete sich gegen den «Hauptgegner» der katholischen Kirche, die bürgerliche und die proletarische Linke, und in diesem Sinn wirkte sie auch. In 330 Wahlbezirken wurde das «non expedit» von 1874 aufgehoben; in 178 Wahlbezirken, wo es nicht zu Absprachen nach dem «Patto Gentiloni» kam, blieb es aufrechterhalten.
    An der Wahl vom 26. Oktober 1913 nahmen 5,1 Millionen oder 60,4 Prozent der Wahlberechtigten teil.

Weitere Kostenlose Bücher