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Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Titel: Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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beider Mächte verständigt. Dazu kam das geheime Neutralitätsabkommen mit Frankreich vom November 1902. Im Herbst 1911 waren es zwei außenpolitische Faktoren, die die Offensive Italiens wesentlich erleichterten: die innere Schwäche des Osmanischen Reiches in den ersten Jahren nach dem Putsch der «Jungtürken» vom April 1909 und die zweite Marokkokrise, die bis zum November 1911 die volle Aufmerksamkeit der europäischen Mächte in Anspruch nahm. Daß der vorsichtige Giolitti und sein Außenminister, der Marchese di San Giuliano, unter weniger günstigen Bedingungen das Wagnis der Krieges auf sich genommen hätten, ist eher unwahrscheinlich.
    Auf den Krieg drängten vor allem die Nationalisten, an der Spitze der parlamentarische Führer Luigi Federzoni, und die Banken, obenan die Banca di Roma unter ihrem Präsidenten Ernesto Pacelli, die sich in Libyen stark engagiert hatte. Publizistische Unterstützung erhielt der Waffengang von den meisten Zeitungen, darunter dem «Corriere della Sera», dem «Giornale d’Italia», der «Stampa», der «Tribuna» und, am lautesten, von der «Idea Nazionale», dem Wochenblatt der Associazione Nazionalista. Die bürgerlichen Gruppierungen im Parlament sprachen sich fast ausschließlich für den Krieg aus; die Sozialisten waren vehement dagegen: Benito Mussolini und der noch jüngere Pietro Nenni organisierten spektakuläre Protestaktionen wie die Besetzung von Bahngleisen, um Truppentransporte zu behindern.
    Unter den Arbeitern und Bauern war der Kolonialkrieg unpopulär; die «Kriegsbegeisterung» beschränkte sich auf das bürgerliche und intellektuelle Italien. Nur hier fand das Argument der Nationalisten Glauben, Italien brauche Libyen als Siedlungsraum, um der chronischen Abwanderung nach Übersee einen Riegel vorzuschieben. Der nüchterne (und wie sich bald zeigen sollte, sehr berechtigte) Einwand des süditalienischen Radikalen Gaetano Salvemini, Libyen sei ein riesiger «Sandkasten», der Krieg folglich eine Fehlinvestition, verhallte ungehört. Für die Regierung Giolitti war der Siedlungsgedanke kein Kriegsgrund; ausschlaggebend war für sie, neben den Bankeninteressen, der erhoffte außenpolitische Prestigegewinn. Während Frankreich und Deutschland sich noch um Marokko und Mittelafrika stritten, wollte der «verspätete» Nationalstaat Italien in Libyen vollendete Tatsachen schaffen und den jahrzehntelangen «scramble for Africa» mit einem großen Erfolg für das kolonialpolitisch benachteiligte Italien abschließen. Wenn dieser Coup gelang, wofür alles sprach, mußte das der Regierung auch innenpolitisch von Nutzen sein.
    Da die italienischen Truppen in Tripolitanien und der Cyrenaika auf unerwartet starken Widerstand stießen, wurden die militärischen Aktionen auf den östlichen Mittelmeerraum ausgeweitet, um den Gegner zur Kapitulation zu zwingen: Die Marine besetzte das türkische Rhodos und die Inseln der Dodekanes, die ebenfalls zum Osmanischen Reich gehörten. Im Sommer 1912 kam den Italienern ein Ereignis zu Hilfe, das ganz Europa in nervöse Unruhe versetzte: der Ausbruch des (ersten) Balkankrieges, ausgelöst durch einen Aufstand der Albaner gegen die türkische Herrschaft. Um keinen Zweifrontenkrieg führen zu müssen, entschloß sich die Hohe Pforte zur Verständigung mit Italien. Im Frieden von Ouchy bei Lausanne stimmte Istanbul am 18. Oktober 1912 der Abtretung von Tripolitanien und der Cyrenaika zu; Italien versprach, Rhodos und die anderen besetzten Inseln zu räumen, löste diese Zusage aber nicht ein. Die Kämpfe mit der einheimischen arabischen Bevölkerung Libyens waren mit dem Friedensschluß nicht beendet. Als Guerillakrieg ging der Konflikt weiter und zwang Italien weiterhin zu starker Truppenpräsenz auf der anderen Seite des Mittelmeers.
    Zu den innenpolitischen Folgen des Libyenkrieges gehörte eine schwere Krise in der Sozialistischen Partei. Im Frühjahr 1911, nachdem er nach über einjähriger Unterbrechung wieder Ministerpräsident geworden war, hatte Giolitti dem Reformisten Leonida Bissolati, inzwischen Chefredakteur des Parteiorgans «Avanti», vergeblich den Eintritt in die Regierung angeboten. Die Politik des Ministerpräsidenten kam in der Folgezeit den Vorstellungen der Sozialisten sehr nahe. Das galt für die Erhöhung der öffentlichen Ausgaben für die Volksschulen, die Überführung der Lebensversicherungen in ein Staatsmonopol, vor allem aber für die umfassende Wahlrechtsreform, die Giolitti kurz vor Kriegsbeginn

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