Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
Duma keine Mehrheit.
Im Jahre 1909 nahm die Regierung Stolypin ein neues Reformprojekt in Angriff: die Schaffung von Semstwo- oder Landschaftsversammlungen in sechs westlichen Provinzen Rußlands. (In anderen, als besonders loyal geltenden Teilen Rußlands waren diese Selbstverwaltungsorgane bereit 1864 eingerichtet worden.) Um ein Übergewicht der Polen zu verhindern, sah der Gesetzentwurf die Unterteilung der Gutsbesitzerkurie in eine russische und eine polnische Abteilung vor. In der Duma fand die Vorlage eine knappe Mehrheit, wobei die Abgeordneten den Zensus für die Gutsbesitzer senkten, so daß auch die Kulaken in der Gutsbesitzerkurie abstimmen konnten. Im Reichsrat aber stieß diese soziale Öffnung auf massiven Widerstand. Eine knappe Mehrheit lehnte den Entwurf im März 1911 in der erklärten Absicht ab, Stolypin darüber zu Fall zu bringen.
Um nicht die Unterstützung der Nationalisten zu verlieren, entschied sich der Ministerpräsident für den Weg der Konfrontation. Er bewog den widerstrebenden Zaren zu einer auf drei Tage befristeten Vertagung von Duma und Reichsrat und nutzte das kurze parlamentarische Intervall, um die Einführung der Selbstverwaltungsorgane in Westrußland in der von der Duma verabschiedeten Fassung durch eine Notverordnung nach Artikel 87 des Grundgesetzes zu erzwingen. Nicht nur der Reichsrat, sondern auch die Mehrheit der Duma sah darin zurecht einen Verfassungsbruch. Stolypin hatte nach der letzten seiner putschartigen Aktionen keinen parlamentarischen Rückhalt mehr, und auf die Unterstützung Nikolaus’ II. konnte er sich seit dem März 1911 weniger denn je verlassen. Am 18. September 1911 erlag er den Schußverletzungen, die ihm vier Tage zuvor ein politisch kaum zuzuordnender Attentäter, ein ehemaliger Agent der Geheimpolizei, der Ochrana, anläßlich des Zarenbesuchs im Städtischen Theater von Kiew zugefügt hatte.
Der Pistolenschütze brachte einen Politiker von außerordentlicher Tatkraft um, der zu dem Zeitpunkt, als er starb, nach der Meinung der meisten Historiker politisch bereits ein toter Mann war. Stolypin war an Verhältnissen gescheitert, die stärker waren als er selbst. Er hatte sich um eine Modernisierung mit autoritären Mitteln bemüht, weil ihm andere nicht zur Verfügung standen. Er wollte aus Rußland einen Rechtsstaat machen, brach aber, um seine Ziele zu erreichen, immer wieder das geltende Recht. Mit der Durchsetzung der Semstwo-Vorlage auf dem Weg der Notverordnung überspannte er den Bogen, und das machte sein Ausscheiden aus dem Amt des Ministerpräsidenten nur noch zu einer Frage der Zeit. Wie sich seine Agrarreform langfristig ausgewirkt hätte, wenn 1914 nicht der Erste Weltkrieg ausgebrochen wäre, muß ein Gegenstand der Spekulation blieben. «Westlicher» war Rußland, wenn man den Zuwachs an politischer Freiheit zum Maßstab der Verwestlichung erhebt, in der fünfjährigen Amtszeit Stolypins nicht geworden. Nur in außenpolitischer Hinsicht war das Zarenreich zwischen 1906 und 1911 dem Westen näher gerückt: Die englisch-russische Konvention über die Abgrenzung der Interessensphären in Asien vom August 1907 brachte zwei Mächte in ein Vertragsverhältnis, die, innenpolitisch gesehen, geradezu Antipoden waren.
Im Jahr darauf schien es einen kurzen Augenblick lang, als würde sich auch zwischen Rußland und Österreich-Ungarn eine Verständigung anbahnen. Den Anstoß dazu gab im Juli 1908 die Erhebung der Jungtürken, einer von jüngeren Offizieren des osmanischen Militärs getragenen Erhebung gegen das autokratische Regime des Sultan Abdulhamid (der jedoch erst nach einem Putschversuch konservativer Kräfte im April 1909 gestürzt und durch seinen im Volk beliebten Bruder Mohammed V. ersetzt wurde). Mitte September 1908 trafen sich die Außenminister Rußlands und Österreich-Ungarns, Iswolsky und Aehrenthal, in Buchlau, um über die Folgen der Veränderungen in Konstantinopel zu beraten. Dabei informierte Aehrenthal seinen russischen Kollegen über die Absicht Wiens, Bosnien und die Herzegowina zu annektieren – ein teils von muslimischen Bosniern, teils von orthodoxen Serben, teils von katholischen Kroaten bewohntes Gebiet, das das Habsburgerreich auf Grund der Beschlüsse des Berliner Kongresses von 1878 besetzt hatte. Auf die Annexion des Sandschak von Novi Pazar, der wie ein Keil zwischen Serbien und Montenegro lag, verzichtete Wien auf Drängen Iswolskys. Ansonsten erklärte sich der russische Außenminister mit dem
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