Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
österreichischen Vorhaben einverstanden und versicherte sich seinerseits der Zustimmung Aehrenthals zu der Forderung St. Petersburgs, die Dardanellen für russische Kriegsschiffe zu öffnen.
Am 5. Oktober erfolgte die Annexion Bosniens und der Herzegowina durch die Donaumonarchie. Die von Iswolsky erhoffte Öffnung der Meerengen aber scheiterte am Widerspruch der mit Rußland verbündeten Westmächte Großbritannien und Frankreich. Die russische Öffentlichkeit reagierte empört auf das Vorgehen Österreich-Ungarns; Stolypin mißbilligte das Verhalten seines Außenministers, dessen Position dadurch allmählich unhaltbar wurde. Österreich-Ungarn hingegen genoß die volle Rückendeckung des Deutschen Reiches, das ihm am 30. September 1908 in der Annexionsfrage einen Blankoscheck ausgestellt und damit ein krasses Beispiel von wilhelminischer Risikopolitik geliefert hatte. Am 21. März 1909 ging Reichskanzler Bülow noch einen Schritt weiter und konfrontierte St. Petersburg mit einer Note, die dort als das verstanden wurde, was sie war: ein kaum verhülltes Ultimatum. Das Zarenreich, das sich für einen Krieg noch nicht stark genug fühlte, lenkte ein und erkannte, ebenso wie das von ihm protegierte Serbien, die Annexion Bosniens und der Herzegowina an. Iswolsky, der mit seiner Balkanpolitik rundum gescheitert war, mußte im November 1910 das Außenministerium aufgeben. Er ging als Botschafter nach Paris, wo er sich fortan darum bemühte, das russischfranzösische Bündnis auszubauen, um für die nächste Kraftprobe mit den Mittelmächten besser gewappnet zu sein. Sein Nachfolger als Außenminister wurde Sergej Dimitrijewitsch Sasonow, ein Schwager Stolypins.
Einen gewissen Ausgleich für die diplomatische Niederlage in der Bosnienkrise verschaffte sich Rußland im Fernen Osten. Im Oktober 1911, in St. Petersburg hatte inzwischen der wenig durchsetzungsfähige Finanzminister Wladimir Nikolajewitsch Kokowzow das Amt des Ministerpräsidenten angetreten, kam es in China zu einer revolutionären Erhebung, die viele Ähnlichkeiten mit der Revolution der Jungtürken aufwies: Jüngere Offiziere in Wuchang riefen eine Militärregierung und die Republik aus und besetzten die Nachbarstädte Hankou und Hanyang. Binnen weniger Wochen schlossen sich alle Provinzen bis auf eine dem Umsturz an. Ende Dezember 1911 kehrte Sun Yatsen, der Führer der sechs Jahre zuvor gegründeten Revolutionären Allianz, der Vorläuferin der Kuomintang, aus seinem japanischen Exil nach China zurück, wo er von den Delegierten von 16 Provinzversammlungen zum Provisorischen Präsidenten der Republik ausgerufen wurde. Im Februar 1912 dankte der Thronregent für seinen fünfjährigen Sohn, den letzten Kaiser von China, ab und beendete damit die fast drei Jahrhunderte zuvor errichtete Herrschaft der Mandschu- oder Chungdynastie. Zum Präsidenten wurde auf Vorschlag Sun Yatsens im März der kaiserliche General Yun Shikai gewählt.
Die revolutionären Wirren im «Reich der Mitte» nahmen drei unter chinesischer Oberhoheit stehende Gebiete, nämlich Tibet, die äußere Mongolei und Ost-Turkestan, zum Anlaß, sich für unabhängig zu erklären. Mit der äußeren Mongolei, die diesen Schritt im Dezember 1911 vollzog, schloß Rußland im Oktober 1912 einen Vertrag, der dem Zarenreich umfassende wirtschaftliche Vorrechte sicherte, in Ost-Turkestan verstärkte Rußland seine diplomatische Präsenz, in der Absicht, den neuen Staat, wenn möglich, in ein russisches Protektorat zu verwandeln. In London lösten die Petersburger Aktivitäten die Befürchtung aus, daß das Zarenreich versuchen könnte, auch Tibet von sich abhängig zu machen: eine Perspektive, der es mit Blick auf die britische Herrschaft in Indien entgegenzuwirken galt.
Während Rußland seinen Einfluß in Ostasien ausdehnte, stand Europa im Bann eines drohenden Balkankrieges. Am 5. Oktober 1908 hatte das bisher der Hohen Pforte gegenüber tributpflichtige Fürstentum Bulgarien sich zum unabhängigen Königreich erklärt; im April 1909 folgte die Anerkennung der Souveränität Bulgariens durch die Türkei und die europäischen Großmächte. Bulgarien förderte als selbsternannte Schutzmacht der slawischen und orthodoxen Mazedonier seit längerem deren Unabhängigkeitsstreben. Die Türkei hatte zwar nach einem mazedonischen Aufstand 1902/03 unter dem Druck Rußlands und Österreich-Ungarns umfassende Verwaltungsreformen in diesem Gebiet versprochen, diese Zusage aber nicht eingelöst. Infolgedessen
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