Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
Grenzen sollten sich die sechs Großmächte verständigen.
Die Niederlage der Türkei war eines, die Verteilung der Beute ein anderes. Gegenüber der Zeit vor Kriegsbeginn hatte sich die Lage dadurch kompliziert, daß Albanien am 28. November 1912 seine Unabhängigkeit erklärt hatte und Rumänien eine territoriale Entschädigung für seine Neutralität verlangte. Auf die albanische Staatsgründung hatte Wien gedrängt, das unter allen Umständen verhindern wollte, daß Serbien sich an der Adriaküste festsetzte. Anders als in der Bosnienkrise, in der Reichskanzler von Bülow Österreich-Ungarn zur Härte gegenüber Serbien angehalten hatte, wirkte die deutsche Politik unter Bülows Nachfolger Bethmann Hollweg alles in allem mäßigend auf den Zweibundpartner ein. Eine ähnliche Rolle spielte England gegenüber Rußland: Außenminister Grey kam während der Londoner Friedensverhandlungen den Mittelmächten weit entgegen, um den serbischen und damit den russischen Einfluß auf dem Balkan nicht zu groß werden zu lassen.
Der Hauptstreitpunkt zwischen den Partnern des Balkanbundes aber betraf Mazedonien. Auf der einen Seite stand Bulgarien, auf der anderen standen Serbien und Griechenland, die einen zu großen Machtzuwachs Bulgariens fürchteten, außerdem Rumänien, das Bulgarien die südliche Dobrudscha abnehmen wollte, und die Türkei. Am 29. Juni 1913 begann der Zweite Balkankrieg mit einem Angriff Bulgariens auf Serbien. In Wien gab es die starke Neigung, Bulgarien beizustehen; die Intervention unterblieb aber, weil Deutschland sich, diesmal im Zusammenspiel mit Italien, dem Vorhaben widersetzte.
Der Verlierer des Zweiten Balkankrieges war Bulgarien. Der Friede von Bukarest führte im August 1913 zur Aufteilung Mazedoniens zwischen Serbien, Griechenland und Bulgarien, das sich mit einem schmalen Landstreifen im Nordosten begnügen mußte. Griechenland erhielt zudem fast ganz Epirus und Kreta. Albanien wurde selbständig, freilich ohne das überwiegend von Albanern bewohnte Kosovo: Es fiel an Serbien, das den größten Teil erhielt und das in diesem Gebiet geheiligten nationalen Boden sah und diesen Mythos mit der Schlacht auf dem Amselfeld begründete, wo türkische Heere am 28. Juni 1389 den serbischen Adel vernichtet hatten. Einen direkten Zugang zur Adria bekam Serbien nicht, wohl aber Hafenrechte an der albanischen Küste. Rumänien erhielt von Bulgarien die südliche Dobrudscha; Adrianopel, türkisch Edirne, wurde der Türkei zugesprochen.
In Europa war die Auflehnung der Balkanvölker gegen die türkische Herrschaft zunächst mit Sympathie aufgenommen worden. Entsetzen riefen dann aber im Ersten Balkankrieg die Grausamkeiten gegenüber der türkischen Zivilbevölkerung hervor, die in hellen Scharen vor den bulgarischen Truppen nach Konstantinopel flüchtete. Im Zweiten Balkankrieg wurden nicht nur die albanischen Muslime, sondern auch Christen von Christen mißhandelt und vertrieben. Im Ergebnis des Krieges konnten die vier Staaten des Balkanbundes und Rumänien nicht nur ihr Staatsgebiet vergrößern, auch ihre Bevölkerungszahlen nahmen zu. Am meisten galt das für Griechenland und Serbien, die sich als die eigentlichen Kriegsgewinner betrachten durften.
Die Gefahr, daß aus dem Konflikt in Südosteuropa ein großer europäischer Krieg erwachsen konnte, schien zeitweilig sehr groß. Am 2. Dezember 1912, wenige Tage nach der Friedenskundgebung der Zweiten Internationale in Basel, warnte der deutsche Reichskanzler von Bethmann Hollweg in einer Reichstagsrede Rußland mit ernsten Worten vor einem Angriff auf Österreich-Ungarn, dem Deutschland in einem solchen Fall ungesäumt zu Hilfe kommen würde. In London sah man in der Rede einen Beitrag zur Krisenverschärfung und eine indirekte Drohung gegenüber dem mit Rußland verbündeten Frankreich. Am 3. Dezember ließ Kriegsminister Lord Haldane den deutschen Botschafter, Fürst Lichnowsky, daher wissen, daß Großbritannien eine Gefährdung Frankreichs und der Entente als casus belli betrachten würde.
Fünf Tage später, am 8. Dezember 1912, hielt Kaiser Wilhelm II. einen «Kriegsrat» ab, zu dem Generalstabschef Hellmuth von Moltke (der Jüngere), der Staatssekretär des Reichsmarineamts von Tirpitz, der Chef des Admiralstabs von Heeringen und der Chef des Marinekabinetts von Müller, nicht aber der Reichskanzler, der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes und der preußische Kriegsminister geladen waren. Nicht nur der Kaiser plädierte an diesem Tag
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