Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
höchstem Maß verantwortungslos. Damit nicht genug, hatten die zuständigen Behörden auch die Fahrstrecke des Thronfolgerpaares durch die Zeitungen bekannt geben lassen. An dieser Strecke warteten sechs Attentäter. Einem von ihnen, Gavrilo Princip, gelang es, Franz Ferdinand und seine Frau aus nächster Nähe zu erschießen.
Alle Spuren des Anschlags deuteten auf serbische Urheber, und in Wien ging man sogleich von einer Verantwortung oder zumindest Mitverantwortung der Belgrader Regierung aus. Seit längerem gab es eine österreichische «Kriegspartei», die davon überzeugt war, daß das serbische Problem sich nur mit Gewalt lösen lasse (und in diesem Punkt mit der Belgrader «Kriegspartei» völlig übereinstimmte). Der Generalstabschef, Franz Graf Conrad von Hötzendorf, war das einflußreichste Mitglied dieser «Partei», die in der österreichischen und ungarischen Presse breite Unterstützung genoß. Außenminister Graf Berchtold galt hingegen als Anhänger eines friedlichen, «trialistischen» Ausgleichs zwischen deutschsprachigen Österreichern, Ungarn und Slawen im Sinne der Vorstellungen des ermordeten Thronfolgers. In den ersten Tagen nach dem Anschlag traten Berchtold, Ministerpräsident Stürgkh und auch Kaiser Franz Joseph für ein vorsichtiges Vorgehen ein: Bevor Serbien mit harten Forderungen konfrontiert wurde, sollten die Ergebnisse der sofort eingesetzten Untersuchung über die Hintergründe des Attentats abgewartet werden.
Im übrigen galt es, sich der Haltung des deutschen Verbündeten zu vergewissern, was um so wichtiger war, als ein Krieg mit Serbien vermutlich einen Krieg mit Rußland nach sich ziehen würde. Österreich-Ungarn und das Deutsche Reich waren nicht nur durch einen Vertrag, den Zweibundvertrag von 1879, aneinander gebunden, sondern auch durch eine lange gemeinsame Geschichte, eine gemeinsame Sprache und Kultur. Deutschland und Österreich-Ungarn waren die beiden mitteleuropäischen Großmächte: Wenn Deutschland seinen Einfluß auf Mitteleuropa behaupten und steigern wollte, konnte es dies, solange es die Habsburgermonarchie gab, nur zusammen mit dieser tun. Auch Conrad machte alles Weitere von der Haltung Berlins abhängig; an einem österreichischen Alleingang im Konflikt mit Serbien dachte in Wien niemand.
In der ersten Juliwoche fielen in Wien und Berlin Entscheidungen, die auf einen Krieg mit Serbien hinausliefen. Am 2. Juli informierte Franz Joseph Wilhelm II. brieflich darüber, daß das Bestreben seiner, der österreichisch-ungarischen Regierung auf die «Isolierung und Verkleinerung Serbiens» ausgerichtet sei: Serbien, «welches gegenwärtig den Angelpunkt der panslawistischen Politik» bilde, müsse als «politischer Machtfaktor auf dem Balkan ausgeschaltet» werden. Der deutsche Kaiser hatte bereits am 30. Juni in Randbemerkungen zu einem Bericht des deutschen Botschafters in Wien, Heinrich von Tschirschky, an den Reichskanzler die Parole «Jetzt oder nie» ausgegeben. Am 6. Juli erfuhr Berchtold, worauf Wilhelm II. und Bethmann Hollweg sich verständigt hatten: Deutschland versicherte Österreich-Ungarn seiner unverbrüchlichen Bundesgenossenschaft, ließ dem Partner freie Hand gegenüber Serbien und drängte auf «sofortiges Einschreiten seinerseits gegen Serbien als radikalste und beste Lösung unserer Schwierigkeiten auf dem Balkan».
Die Mahnung zur Eile erklärte sich daraus, daß man in Berlin die proösterreichische Stimmung nutzen wollte, die sich nach dem Attentat von Sarajewo in Europa verbreitet hatte. Ein rascher militärischer Erfolg der Österreicher mochte Rußland davon abhalten, den Serben beizustehen. Wenn das Zarenreich aber an der Seite Belgrads in den Krieg eingriff, mußte es als der Aggressor dastehen: Nur dann konnte die Reichsleitung hoffen, die Sozialdemokraten von der Notwendigkeit des Beistandes für Österreich-Ungarn zu überzeugen. Ließ sich der Konflikt nicht lokalisieren, drohte der große europäische Krieg, bei dem den beiden Mittelmächten Rußland, Frankreich und höchstwahrscheinlich auch Großbritannien gegenüberstehen würden.
Daß England sich im Kriegsfall nicht auf die Seite Frankreichs stellen, also neutral bleiben würde, konnte der Reichskanzler nicht ernsthaft glauben (auch wenn er sich gelegentlich anders äußerte). Gegen eine solche Annahme sprachen nicht nur die britischen Verträge mit Frankreich und Rußland von 1904 beziehungsweise 1907, die ganz in der Tradition der «balance of power» standen. Es war
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