Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
drängen. An Serbien erging die Empfehlung, sich Wien gegenüber weitgehend nachgiebig zu zeigen und bei einem Einmarsch österreichisch-ungarischer Truppen keinen militärischen Widerstand zu leisten, sondern das Schicksal des Königreichs der Entscheidung der europäischen Großmächte anzuvertrauen. Gleichzeitig beschloß der russische Ministerrat, eine Teilmobilisierung gegen Österreich-Ungarn vorzubereiten, wobei klargestellt werden sollte, daß sich dieser Schritt nicht gegen Deutschland richte. Wenn es zum Krieg kam, sollte deutlich sein, daß Österreich-Ungarn die Schuld daran trug: In diesem Punkt war sich die russische Führung mit dem französischen Präsidenten Poincaré einig, der während seines Besuches die Bündnistreue Frankreichs nachdrücklich unterstrichen hatte.
Die Antwort, die Serbien am 25. Juli auf das Wiener Ultimatum gab, war, dem russischen Ratschlag gemäß, höchst entgegenkommend. Belgrad erklärte sich bereit, die Forderungen Österreich-Ungarns zu erfüllen, soweit sie mit der Souveränität des Königreiches zu vereinbaren waren. Selbst eine dem Völkerrecht entsprechende Mitwirkung von Organen der Donaumonarchie bei der Bekämpfung antiösterreichischer Propaganda schloß Belgrad nicht aus. Dennoch verließ der Wiener Gesandte, nachdem er die Note in Empfang genommen hatte, Serbien, was den Abbruch der diplomatischen Beziehungen bedeutete. Wenige Stunden später begannen in Österreich-Ungarn die Vorbereitungen für die Mobilmachung gegen Serbien. Als der britische Außenminister tags darauf eine Vermittlung der vier nicht unmittelbar beteiligten Großmächte, also Großbritanniens, Deutschlands, Frankreichs und Rußlands, vorschlug, reagierte Berlin taktisch. Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, Gottlieb von Jagow, leitete die Anregung zwar nach Wien weiter, empfahl aber, nicht darauf einzugehen. Vielmehr blieb es bei der Aufforderung, die der Botschafter des Habsburgerreiches in Berlin, Graf Szögyeny-Marich, am 25. Juli Außenminister Berchtold übermittelt hatte: Wien solle, um Einmischungen anderer Mächte zuvorzukommen, in Sachen Serbien rasch ein «fait accompli» schaffen.
Am Morgen des 28. Juli bekam Wilhelm II., der tags zuvor von einer «Nordlandreise» zurückgekehrt war, den Text der serbischen Antwortnote vom 25. Juli zu lesen. Der Kaiser war verblüfft: «Eine brillante Leistung für eine Frist von bloß 48 Stunden. Das ist mehr, als man erwarten konnte! Ein großer moralischer Erfolg für Wien; aber damit fällt jeder Kriegsgrund fort, und Giesl (der österreichische Gesandte in Serbien, H.A.W.) hätte ruhig in Belgrad bleiben sollen. Daraufhin hätte ich niemals Mobilmachung befohlen!»
In einem Handschreiben an Staatssekretär von Jagow wurde Wilhelm II. noch konkreter: Die Wünsche der Donaumonarchie seien im Großen und Ganzen erfüllt. «Die paar Reserven, welche Serbien zu einzelnen Punkten macht, können M(einem) Er(achten) nach durch Verhandlungen wohl geklärt werden. Aber die Kapitulation demütigster Art liegt darin orbi et urbi verkündet, und dadurch entfällt jeder Grund zum Kriege. » Um dem Papier Taten folgen zu lassen, sollte Österreich «ein Faustpfand (Belgrad) für die Erzwingung und Durchführung der Versprechungen» besetzen und solange behalten, bis die Petita erfüllt seien. Auf dieser Grundlage wäre er, der Kaiser bereit, «den Frieden in Österreich zu vermitteln ».
Der Meinungswandel Wilhelms II. hing aufs engste mit der Lektüre eines anderen Schriftstückes zusammen: eines Telegramms des deutschen Botschafters in London, des Fürsten Lichnowsky. Dieser war am Vortag vom britischen Außenminister Sir Edward Grey zu einem Gespräch gebeten worden. Darin hatte der Chef des Foreign Office dem deutschen Diplomaten zunächst seine Einschätzung der Belgrader Antwortnote erläutert: Serbien sei den österreichischen Forderungen in einem Umfang entgegengekommen, den er, Grey, niemals für möglich gehalten habe. «Es sei klar, daß diese Nachgiebigkeit Serbiens lediglich auf einen Druck von St. Petersburg zurückzuführen sei». Wenn Österreich dies nicht als Grundlage für friedliche Unterhandlungen betrachte, dann sei es vollkommen klar, daß Wien nur noch einen Vorwand suche, um Serbien zu unterdrücken. Da Rußland dies mit Blick auf seinen Einfluß auf dem Balkan nicht hinnehmen könne, würde daraus «der furchtbarste Krieg entstehen, den Europa jemals gesehen habe, und niemand wisse, wohin ein solcher Krieg führen
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