Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
Politik in der Julikrise war das Dilemma, das der deutsche Botschafter am Hof von St. James in die Worte faßte: «Wie soll ich für Lokalisierung des Konflikts eintreten, wenn hier niemand daran zweifelt, daß durch das Vorgehen Österreich-Ungarns ernste russische Interessen auf dem Spiele stehen, und daß Rußland sich, falls von uns kein Druck auf Österreich ausgeübt wird, selbst gegen seinen Wunsch zum Einschreiten genötigt sehen wird?»
Es bedurfte einer noch deutlicheren Warnung des britischen Außenministers, um Bethmann Hollweg zu einer gewissen Kurskorrektur zu veranlassen. Am Abend des 29. Juli informierte Grey Lichnowsky, daß die britische Regierung, wenn Deutschland und Frankreich in den russisch-österreichischen Konflikt hineingezogen würden, «unter Umständen sich zu schnellen Entschlüssen gedrängt sehen würde». In einem solchen Fall könne Großbritannien nicht lange abseits stehen und warten; ein Krieg aber würde die größte Katastrophe sein, die die Welt je gesehen hat (if war breaks out, it will be the greatest catastrophe that the world ever has seen).
Der Reichskanzler hielt es nun für angebracht, eine Mahnung an den Bundesgenossen zu richten. Wenn Österreich jede Vermittlung ablehne, telegraphierte er in der Nacht vom 29. zum 30. Juli an Botschafter Tschirschky, stünde Deutschland «vor einer Conflagration (Großbrand, H.A.W.), bei der England gegen uns, Italien und Rumänien nach allen Anzeichen nicht mit uns gehen würden und wir 2 gegen 4 Großmächte ständen». Die Verweigerung jeden Meinungsaustausches mit Petersburg wäre ein schwerer Fehler, da er ein kriegerisches Eingreifen Rußlands geradezu provoziere. «Wir sind zwar bereit, unsere Bündnispflicht zu erfüllen, müssen es aber ablehnen, uns von Wien leichtfertig und ohne Beachtung unserer Ratschläge in einen Weltbrand hineinziehen zu lassen.»
Die Warnung an Wien wirkte wie der Versuch, der Reichsleitung ein Alibi vor der Geschichte zu verschaffen: Der Reichskanzler rügte die Politik, zu der er und seine Mitarbeiter den Verbündeten gedrängt hatten. Im übrigen empfahl Bethmann Hollweg Österreich-Ungarn auch gar keine sachliche Änderung dieser Politik, sondern lediglich Gesten, die den Eindruck erwecken konnten, als suche die Donaumonarchie die friedliche Verständigung mit Rußland. Aber auch dafür war es nun zu spät. Am 29. Juli hatten das Zarenreich die Teilmobilmachung seiner Truppen gegen die Donaumonarchie angeordnet und Österreich-Ungarn vom linken Donauufer aus Belgrad bombardiert. Die Nachricht von der Wiener Militäraktion traf in St. Petersburg während eines Gesprächs ein, in dem der österreichisch-ungarische Botschafter, Graf Szápáry, Außenminister Sasonow soeben versichert hatte, seine Regierung beabsichtige nicht, serbisches Territorium zu annektieren oder die Souveränität Serbiens anzutasten. Sasonow reagierte auf die Meldung aus Belgrad mit der Bemerkung: «Sie wollen nur Zeit mit Verhandlungen gewinnen, aber Sie gehen vorwärts und beschießen eine ungeschützte Stadt.»
Die Bombardierung Belgrads trug wesentlich zur Stärkung der «Kriegspartei» in Rußland bei. Noch bevor die alarmierende Nachricht in die Unterredung zwischen Sasonow und Szápáry platzte, hatte der Außenminister den Botschafter in ungewöhnlich offener Form auf die Machtverhältnisse in St. Petersburg hingewiesen: Er wolle, so sagte er Szápáry, dessen Empfehlungen an den Zaren dem Generalstabschef, General Nikolai Nikolajewitsch Januschkewitsch, mitteilen, denn dieser sehe Seine Majestät alle Tage, während er, der Minister, auch in einer Zeit wie der gegenwärtigen mit dem Zaren nur beim normalen Dienstagsempfang zusammentreffe und dann von diesem erfahre, was die Militärs ihm zutrügen. Sasonow zeigte sich auch persönlich düpiert: Mit seinem militärischen Vorgehen gegen die serbische Hauptstadt hatte Österreich-Ungarn dem Außenminister gewissermaßen die Geschäftsgrundlage entzogen; seine Bemühungen, ohne großen Krieg aus der Krise herauszukommen, waren offenkundig gescheitert.
Auch in Paris geschah am 29. Juli etwas, was den weiteren Gang der Ereignisse stark beeinflussen sollte. Präsident Poincaré und Ministerpräsident Viviani waren am 23. Juli von St. Petersburg aus nach Stockholm aufgebrochen, der ersten Station einer seit langem geplanten Serie von Staatsbesuchen in den skandinavischen Königreichen. Doch die internationale Krise durchkreuzte diese Absicht: Die beiden höchsten
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