Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
daher besser, wenn wir uns sorgfältig mit diesen Vorbereitungen befaßten, anstatt aus Furcht, einen Vorwand zum Kriege zu geben, unvorbereitet von ihm überrascht zu werden.»
Der französische Ministerpräsident Viviani hatte Rußland am Morgen des 30. Juli noch nahegelegt, Deutschland keinen Vorwand zur Mobilmachung zu liefern. Botschafter Paléologue, der von Sasonow über die bevorstehende Generalmobilmachung informiert worden war, unterließ es absichtlich, seine Regierung hiervon sofort in Kenntnis zu setzen. Erst eine halbe Stunde vor Mitternacht ging in Paris das Telegramm des Petersburger Botschafters ein, in dem dieser erste Maßnahmen der allgemeinen Mobilisierung ankündigte, so daß die französische Regierung nur einige Stunden vor den anderen europäischen Kabinetten von der dramatischen Entwicklung erfuhr.
Nach der russischen Generalmobilmachung gab es so gut wie keinen Spielraum mehr für die Befürworter einer nichtkriegerischen Krisenlösung. Reichskanzler von Bethmann Hollweg hatte sein wichtigstes Ziel erreicht: Nicht Deutschland, sondern Rußland hatte als erste Großmacht den Schritt getan, der den Krieg fast unausweichlich machte. Das war von ausschlaggebender Bedeutung für die Haltung der deutschen Arbeiterbewegung. Das Wiener Ultimatum an Serbien hatte der Parteivorstand der SPD am 25. Juli noch als «frivole Kriegsprovokation der österreichisch-ungarischen Regierung» angeprangert. Ende Juli 1914 gab es in den meisten großen Städten Deutschlands Antikriegskundgebungen; die größte fand am 28. Juli im Treptower Park in Berlin statt. Zur gleichen Zeit aber verhandelte der Reichskanzler bereits über den Reichstagsabgeordneten Albert Südekum, einen Revisionisten, mit dem Parteivorstand der SPD, um sich der Loyalität der Arbeiterschaft zu versichern.
Am 29. Juli konnte Südekum dem Kanzler mitteilen, daß im Kriegsfall seitens der Sozialdemokratie irgendwelche Aktionen weder geplant noch zu befürchten seien. Bei einem Krieg mit Rußland hätte sich wohl auch August Bebel, der am 13. August 1913 im Alter von 73 Jahren gestorben war, nicht anders verhalten. Auf dem Essener Parteitag von 1907 hatte er ausdrücklich erklärt, daß er in einem solchen Krieg selbst «die Flinte auf den Buckel nehmen» würde. Wie für Marx und Engels war auch für Bebel das Zarenreich der Feind aller Kultur und aller Unterdrückten. Wenn die Sozialdemokratie vor 1914 gegen den Krieg agitierte, hatte sie einen Krieg gegen den demokratischen Westen, nicht gegen den autokratischen Osten vor Augen. Nachdem Rußland mobil gemacht hatte, konnte die Reichsleitung einigermaßen sicher sein, daß sich ihr die Sozialdemokraten trotz aller Kritik an der offiziellen deutschen Politik nicht in den Weg stellen würden.
Auch in Frankreich mußte die Regierung Ende Juli einen Massenprotest der Arbeiter nicht fürchten. Auf einem außerordentlichen Parteikongreß Mitte Juli hatte die S.F.I.O. es noch nicht für nötig gehalten, über konkrete Fragen der Kriegsverhütung zu beraten; Jules Guesde warnte sogar vor einem Generalstreik, weil er gerade die fortgeschrittenen Länder, die Länder mit den stärksten sozialistischen Bewegungen, lähmen würde. Am 28. Juli, dem Tag, an dem Österreich-Ungarn Serbien den Krieg erklärte, sah sich auch das Büro der Zweiten Internationale auf einer Sitzung in Brüssel nicht in der Lage, zu Massenaktionen gegen den Krieg aufzurufen. Einer der prominentesten Teilnehmer des Treffens, Jean Jaurès, sprach drei Tage später, am 31. Juli, zusammen mit anderen Parteifreunden im französischen Außenministerium vor, um die Regierung Viviani zu schärferem Druck auf den russischen Verbündeten zu veranlassen. Wenige Stunden danach wurde Jaurès auf offener Straße von einem fanatischen Nationalisten ermordet: Der Erste Weltkrieg hatte, noch bevor es eine Kriegserklärung gab, sein erstes Opfer gefordert.
Zwischen den beiden Mittelmächten gab es am 31. Juli Irritationen. Generalstabschef von Moltke kündigte am frühen Morgen, nachdem er von der russischen Generalmobilmachung erfahren hatte, seinem österreichischen Kollegen Conrad auf eigene Faust die deutsche Generalmobilmachung an und forderte Österreich-Ungarn auf, seinerseits sofort gegen Rußland mobil zu machen. Graf Berchtold, der von Bethmann Hollweg in den letzten Tagen mehrfach um Gesten der Verständigungsbereitschaft gegenüber dem Zarenreich ersucht worden war, sah sich zu der Frage veranlaßt: «Wer regiert: Moltke oder
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