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Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Titel: Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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repräsentativer Demokratie, die Franzosen nicht. Wer die Freiheit nicht nur erobern, sondern dauerhaft sichern wollte, tat gut daran, den angelsächsischen Einsichten und einem französischen Aufklärer wie Montesquieu zu folgen, der sich an diesen Erkenntnissen orientierte.
    Die Französische Revolution hatte in der Zeit ihrer stärksten Bedrohung ein Gefühl des Zusammenhalts hervorgebracht, von dem man vermuten durfte, daß es Nachahmer finden würde. Die Franzosen empfanden ihren Nationalismus als verträglich mit den Interessen der anderen europäischen Völker, ja sich selbst als Vorkämpfer der Befreiung des Menschengeschlechts. Folgerichtig konnte im Prinzip Franzose werden, wer sich glaubwürdig zu den Werten der Französischen Revolution bekannte. Die französische Sprache freilich, die Sprache der Menschenrechte, mußte, wer Bürger des revolutionären Frankreich sein wollte, beherrschen. Das galt nicht nur für Ausländer, der Konvent forderte dies Anfang 1794 auch von den Citoyens jener Departements, in denen nicht französisch, sondern bretonisch, baskisch, italienisch oder deutsch die Muttersprache war.
    Das revolutionäre Frankreich wurde, indem es der Bindung an die Nation einen höheren Rang zusprach als anderen Bindungen, zur Pioniernation des modernen Nationalismus. Da die Aufklärung die Bindekraft der alten Autoritäten, der Kirche wie der Herrscher von Gottes Gnaden, in großen Teilen Europas erschüttert hatte, gab es auch andernorts ein Bedürfnis nach neuen Formen des Zusammenhalts. Die Frage war, ob sich der Nationalismus auch jenseits der französischen Grenzen mit dem Bekenntnis zu den Menschen- und Bürgerrechten verbinden oder auf rein nationale Werte wie die eigene Sprache und Kultur berufen würde.
    Offen war im ersten Jahrzehnt nach 1789 auch, ob andere Länder einen ähnlich radikalen Bruch mit dem Christentum wie Frankreich vollziehen oder eine Verbindung von Nationalgefühl und überkommener Religion anstreben würden. Sicher war nur, daß die Umwälzungen, die Frankreich zwischen 1789 und 1794 erlebt hatte und die noch längst nicht abgeschlossen waren, eine tiefe Zäsur für ganz Europa bildeten: Der alte Kontinent befand sich in einer Zeit des tiefgreifenden geistigen, gesellschaftlichen und politischen Umbruchs, dessen Ende nicht abzusehen war.[ 26 ]
    Prekäre Stabilisierung: Thermidor und Direktorium
    Verglichen mit dem ersten Jahrfünft der Revolution verlief das zweite Jahrfünft, die Zeit des Thermidor, weniger dramatisch. Doch von einer wirklichen Stabilisierung oder gar einer Rückkehr zur Normalität konnte keine Rede sein. Mit dem Sturz Robespierres endete der Terror als System, nicht der Terror an sich. Es gab auch danach noch regionale Bürgerkriege wie den der «Chouans» in der Bretagne und den «weißen Terror» gegen Jakobiner und Sansculotten. Im November 1794 ließ der Konvent den Jakobinerclub schließen. Im Dezember kehrten die Girondisten in den Konvent zurück. Im gleichen Monat wurden Carrier, der Hauptverantwortliche der «noyades» von Nantes, durch die Guillotine hingerichtet und die Zwangsbewirtschaftung der Lebensmittel in Gestalt der Maximumgesetze aufgehoben.
    Im Jahr 1795 erlebte Frankreich mehrere Umsturzversuche: im April und Mai erst den Germinal-, dann den Prairial-Aufstand der Sansculotten, im Oktober schließlich den Vendémiaire-Aufstand bürgerlicher, aristokratischer und royalistischer Kräfte. Alle Erhebungen wurden rasch niedergeworfen, am blutigsten die vom Herbst: Im Auftrag des Konvents ließ der aus Korsika stammende, damals sechsundzwanzigjährige General Napoleon Bonaparte, der bei der Eroberung von Toulon im Dezember 1793 eine ruhmreiche Rolle gespielt hatte, am 5. Oktober 1795 die bewaffneten Rebellen an den Tuilerien mit Kanonen niederschießen. Kurz darauf wurde der Sieger des Vendémiaire zum Oberbefehlshaber des Innern ernannt: eine Position, die Bonaparte für seine weitere Karriere zu nutzen verstand.
    In das zweite Jahr des Thermidor fallen auch eine Art Toleranzedikt zugunsten der katholischen Kirche, die Abschaffung des Revolutionstribunals und die Verabschiedung einer neuen Verfassung, die an die Stelle der am 10. August 1793 verkündeten, aber niemals in Kraft getretenen Verfassung trat. Die Verfassung vom 5. Fructidor des Jahres III, nach altem Kalender vom 22. August 1795, war ein durch und durch bürgerliches Dokument. Sie enthielt einen Katalog rechtsstaatlicher Sicherungen, darunter ein striktes Verbot

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