Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
Aufklärung, sondern nur eine bestimmte Richtung derselben, die in einem ursächlichen Zusammenhang mit der Schreckensherrschaft stand. Bei Rousseau war vieles von dem gedanklich angelegt, was Robespierre in die Tat umzusetzen versuchte. Wenn sich das Gemeinwohl nicht aus dem Ausgleich auseinanderstrebender Interessen ergab, sondern aus der überlegenen Einsicht eines obersten Gesetzgebers, dann durfte dieser auch dem Volk vorschreiben, was es vernünftigerweise wollen mußte. Bezeichnend für die Erben Rousseaus war ihr ungeschichtlicher Umgang mit der Geschichte. Als sich die Männer des Konvents, die Girondisten nicht weniger als die Jakobiner, zu wiedergeborenen Römern stilisierten und mit den beiden Volkstribunen aus der Familie der Gracchen, mit dem Ankläger der Anhänger des Verschwörers Catilina, dem jüngeren Cato, oder mit dem Cäsarenmörder Brutus verglichen, sahen sie geflissentlich darüber hinweg, daß die römische Republik das war, was die Französische Republik nicht sein wollte: eine Sklavenhaltergesellschaft.
Unhistorisch war auch die Sicht des Fortschritts, die wir bei gemäßigten und radikalen Revolutionären gleichermaßen finden. Der Philosoph und Mathematiker Condorcet, der als girondistisches Mitglied des Konvents im März 1794 ins Gefängnis kam und sich dort zwei Tage nach seiner Einlieferung das Leben nahm (wenn er nicht, weniger wahrscheinlich, an Erschöpfung starb), lastete noch in seiner letzten, 1794 veröffentlichten Schrift über die Entwicklung der Fortschritte des menschlichen Geistes dem Christentum die Schuld am Untergang Roms und der gesamten antiken Wissenschaft und Philosophie an. Das Christentum war Condorcet zufolge wissenschafts- und freiheitsfeindlich, und was es im Okzident seit der Zeit der Kreuzzüge an Fortschritt gab, hatte dieser Religion in harten Kämpfen abgetrotzt werden müssen.
Was das Christentum zur Geschichte der Freiheit beigetragen hatte, blieb diesem Aufklärer verborgen. Wie Rousseau hatte auch Condorcet keinen Sinn für die freiheitsfördernde Kraft, die in der mittelalterlichen Trennung von geistlicher und weltlicher Gewalt lag. Condorcet war kein Außenseiter. Die Religionspolitik der Französischen Revolution stand, was den Anspruch auf den Primat des Staates angeht, in auffallender Kontinuität zum «Gallikanismus», dem Staatskirchentum der französischen Könige, und war darum vorzüglich geeignet, Tocquevilles These zu bestätigen, daß die Revolution in wesentlichen Bereichen das Werk des Absolutismus fortgesetzt habe. Die Kirchenpolitik von der Konstituante über die Legislative bis zum Konvent lief darauf hinaus, nicht nur die Kirche als Organisation, sondern den Glauben der Citoyens zu verstaatlichen. Robespierres «religion civile» stellte eine eher gemäßigte Erscheinungsform dieser Tendenz dar. Ein Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit konnte aus einer solchen Entindividualisierung der Religion nicht erwachsen.
Den französischen Revolutionären war schwerlich bewußt, wie sehr sie selbst von christlichen Traditionen geprägt waren. Wenn sie bei den republikanischen Festen kirchliche Rituale nachahmten, empfanden sie dies als Ausdruck und Mittel einer Befreiung vom Christentum. Wenn sie sich zu Wächtern der Lebensführung der Bürgerinnen und Bürger machten, Übernahmen sie eine Rolle, die bisher die Kirche ausgefüllt hatte. Doch nur wenige dürften sich Rechenschaft darüber abgelegt haben, daß Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit Werte waren, die eine lange christliche Vorgeschichte hatten. Der Kampf gegen die überlieferte Religion war, so gesehen, auch ein Kampf gegen die verdrängten Ursprünge der Französischen Revolution.
Auch darum ließen sich die Ideen von 1789 durch den Terror der Jahre 1793/94 nicht widerlegen. Der Anspruch auf unveräußerliche Menschen- und Bürgerrechte, darunter das Recht des Volkes auf politische Selbstbestimmung, war, seit ihn 1776 die Amerikaner und 13 Jahre später die Franzosen erhoben hatten, nicht mehr aus der Welt zu schaffen. Aus dem Beispiel beider «atlantischen» Revolutionen ließ sich lernen. Die Vereinigten Staaten hatten es insofern leichter gehabt, als sie nur einen äußeren Feind, das koloniale Mutterland, bezwingen mußten. Für die revolutionären Franzosen ging es darum, sich gegenüber inneren und äußeren Feinden zu behaupten. Die Amerikaner verfügten, dank ihrer englischen Prägung, über Erfahrungen mit Gewaltenteilung, «checks and balances» und
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