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Geschichte des Westens

Geschichte des Westens

Titel: Geschichte des Westens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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nationalistischen Verschwörergruppe angehörte, ermordet.)
    Der Vertrag von Sèvres markierte keinen Aufbruch in eine neue, von der Idee des Selbstbestimmungsrechts der Völker geprägte Zeit, sondern einen Rückfall in die Hochzeit des europäischen Imperialismus. Er war der letzte der Pariser Vorortsverträge – und der einzige, der nicht in Kraft trat. Die Große Nationalversammlung verweigerte die Ratifizierung. Um den Ententemächten wirksam entgegentreten zu können, hatte Mustafa Kemal sich mittlerweile um ein taktisches Zusammengehen mit Sowjetrußland bemüht. Die langwierigen Verhandlungen wurden dadurch erschwert, daß Moskau zeitweilig die im Mai 1918 proklamierte Demokratische Republik Armenien unterstützte, gegen die die Türkei Mustafa Kemals 1920 Krieg führte. Im März 1921 kam schließlich ein Freundschaftsvertrag zwischen Sowjetrußland und der Türkei zustande, der (neben russischen Goldlieferungen) die Teilung Armeniens zwischen beiden Ländern zur Folge hatte und die kurze Phase der armenischen Unabhängigkeit jäh beendete.
    Um dieselbe Zeit konnte die türkische Nationalarmee unter dem Generalstabschef Ismet Pascha wichtige militärische Erfolge erringen: Sie schlug die griechischen Interventionstruppen, die inzwischen ein Drittel des Landes erobert hatten, zweimal, im Januar und März 1921, bei einem kleinen, etwa auf halber Strecke zwischen Ankara und Istanbul gelegenen Ort namens Inönü (was Mustafa Kemal die Möglichkeit gab, dem Sieger und späteren Regierungs- und Staatschef Ismet Pascha 1934, als Familiennamen obligatorisch wurden, den Namen «Inönü» zu verleihen).
    Ein großer politischer Erfolg Mustafa Kemals war es, daß Frankreich sich im Oktober 1920 genötigt sah, einen Vertrag mit der Regierung in Ankara zu schließen, der praktisch einen Sonderfrieden bedeutete. Auch Italien, dem auf Grund des Londoner Geheimvertrages vom April 1915 eine Einflußzone im südlichen Anatolien zugestanden worden war, stellte sich offen auf die Seite Mustafa Kemals. Im September 1922 drang die türkische Nationalarmee unter Führung Mustafa Kemals bis nach Smyrna (oder Izmir) vor. Am 12. September fiel Smyrna. Die vorwärts stürmenden türkischen Truppen trieben die flüchtenden griechischen Soldaten und Zivilisten ins Meer; längst nichtalle von ihnen erreichten auf Schiffen und Booten die nahe gelegenen griechischen Inseln Chios und Mytilene.
    Die Jahrtausende alte Geschichte des kleinasiatischen Griechentums nahm damit ein Ende mit Schrecken. Infolge revolutionärer Unruhen in Griechenland mußte König Konstantin I. (der im Juni 1917 schon einmal, unter dem Druck der Entente, auf seinen Thron verzichtet, diesen aber nach dem Tod seines Sohnes und Nachfolgers Alexander und einer Volksabstimmung im Dezember 1920 erneut bestiegen hatte) am 27. September zugunsten seines Sohnes Georg II. abdanken. Beinahe wäre es Anfang September 1922, als die türkischen Truppen sich Tschanak in der neutralen Zone der Dardanellen näherten, auch zu einem direkten Zusammenstoß von türkischen und britischen Truppen gekommen; er unterblieb nur dank der Umsicht des kommandierenden Generals Harrington und der bewußten Zurückhaltung der Türken. Der britische Premierminister Lloyd George, der die Griechen bis zuletzt zum Kampf gegen die Türken angetrieben hatte, mußte für seine Halsstarrigkeit einen hohen Preis bezahlen: Die Konservativen kündigten die Kriegskoalition auf. Aus den Unterhauswahlen vom 15. November 1922 gingen sie als Sieger hervor.
    Dem türkischen Sieg in Kleinasien folgten wenig später, am 10. Oktober, der Waffenstillstand von Mudanya und kurz darauf, am 19. Oktober, die Übernahme von Ostthrakien durch die Nationalarmee. Am 1. November 1922 begannen die Friedensverhandlungen in Lausanne. Da die Alliierten hierzu auch die Regierung des Sultans eingeladen hatten, erklärte die Große Nationalversammlung noch am gleichen Tag das Sultanat für erloschen. An Stelle des aus Istanbul geflohenen Sultans Mehmed VI. wählte sie am 18. November den Thronfolger Abdulmecid zum Kalifen und damit zum Oberhaupt der Muslime, versagte ihm aber alle politischen Herrschaftsrechte.
    Auf der Konferenz von Lausanne konnte die Regierung Mustafa Kemals ihre wichtigsten politischen Ziele durchsetzen. Im Friedensvertrag, der am 24. Juli 1923 abgeschlossen wurde, erkannten die Alliierten die Unabhängigkeit und Souveränität der Türkei an. Die historischen Vorrechte ausländischer

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