Geschichte des Westens
hatten, sollten angeblich einem italienischen Griff nach Südanatolien zuvorkommen, waren jedoch in Wirklichkeit das Instrument einer sehr viel ehrgeizigeren Politik der Athener Regierung. Dieser ging es um nichts Geringeres als um die griechische Herrschaft über die teils griechisch, teils türkisch besiedelte kleinasiatische Küstenregion und damit um die Schaffung eines Großgriechenland.
Die griechische Intervention stieß bald auf heftigen Widerstand unter Führung von General Mustafa Kemal, dem erfolgreichsten Heerführer der Kriegsjahre und späteren Gründer und Führer der türkischen Republik, den die Regierung von Sultan Mehmed VI. mit der Demobilisierung von Teilen der osmanischen Armee beauftragt hatte. Zwei Nationalkongresse in Erzerum und Sivas wählten ihn im Sommer und Frühherbst 1919 zum Vorsitzenden. Sein Programm war der am 22. September 1919 in Sivas beschlossene «Nationalpakt», der einen türkischen Nationalstaat zum Ziel erhob. Er sollte freilich nicht nur die von ethnischen Türken, sondern auch die von Armeniern, Kurden und Griechen bewohnten Gebiete Anatoliens und Thrakiens umfassen.
Das von Mustafa Kemal gebildete «Repräsentationskomitee» mit Sitz in Ankara bekannte sich zwar zum Schutz des Sultanats und des Kalifats, bildete aber tatsächlich eine Gegenregierung zu der des Sultans. Das Wichtigste war für Mustafa Kemal die Organisierung des Kampfes um die Unabhängigkeit – eines Kampfes, der sich im Westen Anatoliens gegen die Griechen, im Norden gegen die von den Briten protegierte «Ordnungstruppe» oder «Kalifatsarmee», im Osten gegen die armenische Unabhängigkeitsbewegung und im Süden, in dem von französischen Truppen besetzten Kilikien, gegen ebendiese Streitkräfte richtete. Als sich Sultan Mehmed VI. Anfang 1920 der von MustafaKemal vertretenen Linie anzunähern begann und das auf seine Weisung hin neugewählte Parlament den Nationalpakt beschloß, entschieden sich die Briten für ein hartes Vorgehen: Am 16. März unterstellten sie Istanbul ihrer Militärverwaltung. Mustafa Kemal ordnete daraufhin die Wahl einer neuen, mit außerordentlichen Vollmachten versehenen Großen Nationalversammlung an, die in Ankara zusammentrat. Am 23. April erklärte sie sich angesichts der faktischen Internierung des Sultans zur vorläufigen Trägerin der gesamten türkischen Souveränität und beauftragte Mustafa Kemal mit der Bildung einer neuen Regierung. In einem auf 20 Tage befristeten Waffenstillstand, der zur Räumung Kilikiens führte, erkannte Frankreich als erste auswärtige Macht die Regierung in Ankara an. Am 18. Juli legte sich die Große Nationalversammlung durch einen feierlichen Eid auf den Nationalpakt fest und sagte damit den Friedensbedingungen den Kampf an, die die Verbündeten am 10. Juni in Sèvres vorgelegt hatten.
Dessen ungeachtet unterzeichneten die Vertreter des Sultans, wenn auch unter nachdrücklichem Protest, am 10. August 1920 den Vertrag von Sèvres. Er bestätigte den Verlust aller nichttürkischen, das heißt arabischen Reichsteile, auf den sich die Verbündeten schon während des Krieges verständigt hatten. Mesopotamien, also das spätere Königreich Irak, und Palästina wurden als Völkerbundsmandate an Großbritannien übergeben, Syrien und Libanon, ebenfalls als Mandatsgebiete, an Frankreich. Griechenland sollte das südöstliche Thrakien bis zur Tschatschalda-Linie, rund 40 Kilometer vor Istanbul, erhalten, außerdem, zunächst für fünf Jahre, Smyrna. Für Armenien war die Unabhängigkeit, für Kurdistan zunächst die Autonomie vorgesehen. Die Meerengen unterstellte der Vertrag internationaler Verwaltung und Kontrolle: ein tiefer Eingriff in die türkische Souveränität. Internationale Militärgerichte sollten osmanische Kriegsverbrechen, vor allem die massenhafte Deportation und Ermordung von Armeniern 1915/16, verfolgen und damit das Werk zu Ende führen, das türkische Militärgerichte, unter massivem Druck der Entente und in Abwesenheit der wichtigsten der damals Verantwortlichen, im April 1919 mit den «Jungtürken-Prozessen» begonnen hatten. (Von den Todesurteilen gegen den ehemaligen Großwesir Talaat Pascha, den ehemaligen Kriegsminister Enver Pascha und den ehemaligen Marineminister Djemal Pascha konnte keines vollstreckt werden, weil sich die Angeklagten dem Prozeß durch die Flucht nach Deutschland entzogen hatten.Talaat Pascha wurde am 15. März 1921 in Berlin von einem armenischen Studenten, der einer
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