Geschichte des Westens
dies verlangten, seine Maßnahmen außer Kraft setzen müssen. Aber Stresemann und die bürgerlichen Minister gingen davon aus, daß sich Kahr einem solchen Ersuchen nicht fügen würde, und hielten es darum für besser, gar nicht erst in diesem Sinn in München vorstellig zu werden.
Die Schwäche des Reichs sollte in den folgenden Tagen noch deutlicher hervortreten. Als der «Völkische Beobachter», das Organ der Nationalsozialisten, am 27. September heftige antisemitische Attacken auf die «Diktatoren Stresemann – Seeckt» richtete (auf den ersteren, weil er mit einer «Jüdin», auf den letzteren, weil er mit einer «Halbjüdin» verheiratet war), wies Reichsminister Geßler Kahr an, das Blatt zu verbieten. Kahr lehnte das ab, und General von Lossow, der Kommandeur der in Bayern stehenden Reichswehrtruppen, schloß sich dieser Haltung an. Das war ein klarer Fall von Befehlsverweigerung. Doch der Chef der Heeresleitung, General von Seeckt, dachte sowenig wie beim Kapp-Lüttwitz-Putsch im März 1920 daran, Reichswehr auf Reichswehr schießen zu lassen. Er hielt sich vielmehr für eine ähnliche Rolle im Reich bereit, wie Kahr sie in Bayern übernommen hatte, und es gab viele, die ihn darin bestärkten: Eine «nationale Diktatur» unter einem von Seeckt geführten «Direktorium» war die Forderung prominenter Schwerindustrieller wie Hugo Stinnes und aller Kräfte, die ihre politische Heimat bei den Deutschnationalen sahen.
Eine andere Art von «Diktatur» schlugen in der Kabinettssitzung vom 30. September Arbeitsminister Brauns, ein Zentrumspolitiker, und Finanzminister Hilferding vor: Sie forderten ein Ermächtigungsgesetz, das es der Regierung gestatten sollte, in finanzieller und politischer Hinsicht das Notwendige zu tun. Für notwendig hielten beide eine Verlängerung der Arbeitszeit – was sie in Übereinstimmung mit den Unternehmern und in einen Gegensatz mit den Gewerkschaften brachte. Aber auch die SPD, Hilferdings Partei, war nicht bereit, den geforderten Vollmachten in der Arbeitszeitfrage zuzustimmen. Aufdem rechten Flügel der Großen Koalition nahm der Widerspruch gegen die Politik des Kabinetts Stresemann sehr viel schroffere Züge an: Der Fraktionsvorsitzende der DVP, Ernst Scholz, forderte im Einverständnis mit dem rechten Parteiflügel und namentlich mit Hugo Stinnes am 2. Oktober die umfassende Abkehr vom Achtstundentag, den «Bruch mit Frankreich» und die Einbeziehung der Deutschnationalen in die Große Koalition. Nach Lage der Dinge war das nichts anderes als eine Kampfansage an den Reichskanzler und ein verdecktes Bekenntnis zur «nationalen Diktatur». Stresemann zog noch am selben Tag die Konsequenz und reichte seinen Rücktritt ein.
Vier Tage später, am 6. Oktober, hieß der Kanzler dann doch wieder Gustav Stresemann, und abermals stand er einem Kabinett der Großen Koalition vor. Im Sinne einer Erneuerung dieses Bündnisses hatte Reichspräsident Ebert gewirkt, und er hatte damit Erfolg, weil die gemäßigten Kräfte der DVP nicht bereit waren, sich dem Druck von Stinnes zu beugen und Stresemann fallen zu lassen. In der Nacht vom 5. zum 6. Oktober gelang den Parteiführern der entscheidende Durchbruch in der Sache: Sie verständigten sich in der Arbeitszeitfrage auf eine Formel, auf die sich ihre Experten schon am 13. November 1922, am Vorabend des Auseinanderbrechens des Kabinetts Wirth, geeinigt hatten: Der Achtstundentag sollte grundsätzlich beibehalten, aber auf tariflichem oder gesetzlichem Weg überschritten werden können.
Mit einem Ermächtigungsgesetz, das die Arbeitszeitfrage aussparte und nur für die Dauer der Regierungszeit der gegenwärtigen Koalition gelten sollte, war nun auch die SPD einverstanden. Am 13. Oktober nahm der Reichstag dieses Gesetz mit der notwendigen verfassungsändernden Mehrheit an. Auf seiner Grundlage ergingen Verordnungen zur Erwerbslosenfürsorge, zum Personalabbau im öffentlichen Dienst und eine Verordnung, die die staatliche Zwangsschlichtung von Tarifkonflikten einführte und damit den Staat zum Oberschiedsrichter in Arbeitskämpfen machte. Die Parallelen zu den außerordentlichen Vollmachten des Artikels 48 lagen auf der Hand.
Zur gleichen Zeit, in der in Berlin um das Schicksal der Großen Koalition gerungen wurde, arbeiteten rechtsautoritäre Kräfte und Kommunisten auf einen Regimewechsel hin. In Bayern ließ sich Hitler am 25. September zum Führer des «Deutschen Kampfbundes», einer neuen Dachorganisation der
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