Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Geschichte des Westens

Geschichte des Westens

Titel: Geschichte des Westens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
Vom Netzwerk:
Finnlands zum Opfer fielen. Den stalinistischen Terror überlebten fast nur
die
finnischen Kommunisten, die in finnischen Gefängnissen inhaftiert waren. Späteren Schätzungen zufolge kamen in den stalinistischen Lagern, dem «Archipel Gulag», 20.000 Finnen ums Leben. Die großfinnische Propaganda lieferte Moskau Gründe, Finnland Annexionsabsichten in bezug auf Ostkarelien und Ingermanland zu unterstellen. Umgekehrt fühlte sich Finnland vom Bau strategisch wichtiger Eisenbahnlinien in Ostkarelien bedroht. Solange in Finnland die konservativen Kräfte mit Svinhufvud an der Spitze das Sagen hatten, wurde das Deutschland Hitlers als die, verglichen mit der Sowjetunion Stalins, bei weitem weniger gefährliche Großmacht betrachtet. Aber auch nach dem Wiedereintritt der Sozialdemokraten in die Regierung blieb die Furcht vor Moskau und dem internationalen Kommunismus stark genug, um jede Art von antideutscher Frontstellung Finnlands zu verhindern.
    Anders als Finnland erlebte die Tschechoslowakei zwischen 1918 und 1938 keine innere Krise, die das parlamentarische System ernsthaft in Gefahr brachte. Die Tschechoslowakische Republik war der am stärksten industrialisierte, bürgerlichste, politisch stabilste und in diesem Sinn «westlichste» unter den neuen Staaten Ostmitteleuropas. Zugleich war es, neben Frankreich, der «laizistischste» unter den ursprünglich katholischen Staaten Europas. Die Verfassung vom 29. Februar 1920 bezeichnete die Tschechoslowakei ganz im Sinne der berühmten französischen Formel von der «nation une et indivisible», als ein einheitliches und unteilbares Ganzes. Einen Sonderstatus genoß lediglich die ehedem ungarische Karpato-Ukraine (Podkarpatská Rus), die eine zumindest nominelle Selbstverwaltung und einen eigenen Gouverneur erhielt. Die gesetzgebende Gewalt lag beim Abgeordnetenhaus, das von den volljährigen Männern und Frauen für die Dauervon sechs Jahren nach dem Verhältniswahlrecht gewählt wurde, und dem Senat, der ebenfalls aus allgemeinen Wahlen hervorging und auf acht Jahre gewählt wurde. Der Präsident wurde von beiden Kammern des Parlaments auf sieben Jahre gewählt; er verfügte über ein suspensives Veto gegen Gesetze, die von beiden Kammern angenommen worden waren. Die Regierung war dem Abgeordnetenhaus verantwortlich und konnte von diesem durch ein Mißtrauensvotum zum Rücktritt gezwungen werden.
    Als Staatssprache bezeichnete das gleichzeitig mit der Verfassung verabschiedete Sprachengesetz das Tschechoslowakische, das tatsächlich aus zwei Sprachen, der tschechischen und der nah mit ihr verwandten slowakischen, bestand. Den anderssprachigen Minderheiten wurden, wenn sie in einem Gerichtsbezirk nach der jeweils letzten Volkszählung mindestens von 20 Prozent der Bevölkerung gesprochen wurde, der Gebrauch ihrer Sprache im Verkehr mit Behörden und Gerichten sowie die Errichtung eigener Schulen gestattet. Die Tschechen und Slowaken machten 1921 mit knapp 8,8 Millionen (64,35 Prozent) die größte Bevölkerungsgruppe aus; es folgten die Deutschen mit 3,1 Millionen (22,94 Prozent), die Ungarn mit 745.000 (3,38 Prozent), die Karpato-Ukrainer mit 461.000 (3,4 Prozent), die Juden mit 180.000 (1,32 Prozent) und «Polen und andere» mit 102.000 Staatsbürgern (0,75 Prozent).
    Das Verhältniswahlrecht begünstigte eine große Parteienvielfalt. Auf tschechoslowakischer Seite gab es zwei Parteien rechts der Mitte, die Nationaldemokraten und die Agrarier, zwei sozialistische Parteien, nämlich die Sozialdemokraten und die eher kleinbürgerlichen Nationalsozialisten, sowie die katholische Volkspartei als klassische Mittelpartei. Diese fünf Parteien, «pětka» genannt, waren die eigentlichen Staatsgründungs- und die häufigsten Regierungsparteien. In der Slowakei kamen zu den genannten Parteien noch die katholische Slowakische Volkspartei und die weit rechts stehende, aber unbedeutende Slowakische Nationalpartei hinzu. Die größten sudetendeutschen Parteien bestanden aus den Sozialdemokraten, dem Bund der Landwirte und der Christlich-Sozialen Partei, die sich ideologisch zu stark voneinander unterschieden, um je einen Block bilden zu können. Die Ungarn der Slowakei sammelten sich in einer Sozialdemokratischen und einer Christlich-Sozialen Partei. Die einzige Partei, die sich konsequent über- und international gab, war die 1918 in Rußland gegründeteKommunistische Partei, in der vor allem Tschechen und Deutsche aktiv waren. Im ersten, 1920 gewählten Parlament,

Weitere Kostenlose Bücher