Geschichte des Westens
Absicht, den von ihnen beherrschten Kolonialvölkern das Recht der Selbstbestimmung zu gewähren. Eine (wie immer auszugestaltende) Autonomie der Völker der Habsburgermonarchie und Polens lag aber durchaus auf der Linie Londons. In Paris hing alles davon ab, ob bei Friedensverhandlungen eher «rechte» oder «linke» Kräfte das Sagen hatten: Von letzteren durfte Wilson sehr viel mehr Entgegenkommen erwarten als von ersteren. Die Praxis der Mittelmächte hingegen widersprach den Prinzipien des amerikanischen Präsidenten so sehr, daß Berlin und Wien unglaubwürdig geworden wären, wenn sie ein Bekenntnis zu einer Friedensordnung im Sinne Wilsons abgelegt hätten.
Die Reichsleitung dachte auch gar nicht daran, das zu tun. Am 19. Januar 1917, also drei Tage vor Wilsons Rede im Senat, hatte derStaatssekretär des Auswärtigen Amtes, Arthur Zimmermann, der mexikanischen Regierung für den Fall, daß die Vereinigten Staaten nicht neutral blieben, eine Allianz vorgeschlagen und Mexiko die Unterstützung für die Rückeroberung von New Mexico, Texas und Arizona, eines Großteils der 1848 verlorenen Gebiete, versprochen. Dem Geheimdienst der britischen Marine gelang es, das einschlägige Telegramm aufzufangen und zu dechiffrieren. Am 24. Februar wurde es dem State Department zur Kenntnis gebracht; die Veröffentlichung des Dokuments am 1. März löste in Amerika eine Welle der Empörung aus. Die diplomatischen Beziehungen zwischen dem Deutschen Reich und den USA waren zu diesem Zeitpunkt bereits abgebrochen: Mit diesem Schritt hatte Washington am 3. Februar auf eine deutsche Note vom 31. Januar geantwortet, die die Rückkehr zum uneingeschränkten U-Boot-Krieg ankündigte und das mit der völkerrechtswidrigen Seeblockade durch Großbritannien begründete.
Eine verhängnisvollere Entscheidung hätte Berlin nicht treffen können. Die Seekriegsleitung hatte sich nie mit der Beendigung des uneingeschränkten U-Boot-Krieges abgefunden, wie sie von der Reichsleitung unter massivem amerikanischem Druck im September 1917 verfügt worden war. Am 9. Januar 1915 beugte sich Reichskanzler von Bethmann Hollweg dem gemeinsamen Drängen von Seekriegsleitung, Oberster Heeresleitung und Kaiser und willigte in die Wiederaufnahme des unbeschränkten U-Boot-Krieges ein. Den Ausschlag gab die Zusage des Admiralstabs, mit Hilfe der U-Boote England innerhalb von fünf Monaten in die Knie zu zwingen. Fallen konnte die Entscheidung nur, weil alle Beteiligten die Wirtschaftskraft, das militärische Potential und die moralische Energie Amerikas auf groteske Weise unterschätzten. Daß der Reichskanzler am 31. Januar dem amerikanischen Präsidenten zusammen mit der Mitteilung über die Wiederaufnahme des uneingeschränkten U-Boot-Krieges streng vertraulich eine allgemein gehaltene und eher verschleiernde Liste deutscher Kriegsziele überreichen ließ, konnte Wilson nur noch als zusätzlichen Affront empfinden.
Den Kampf um seine Wiederwahl im November 1916 hatte Woodrow Wilson vor allem mit der Parole bestritten, er sei der Präsident, der Amerika aus dem Krieg herausgehalten habe. Seine Rede vor dem Senat vom 22. Januar 1917 enthielt einen Passus, in dem er (unter Anspielung auf eine berühmte Formulierung in der ersten Inaugurationsredevon Thomas Jefferson vom 4. März 1801) «entangling alliances», also der Verstrickung in Bündnisse mit europäischen Mächten, eine klare Absage erteilte. Nach der Rückkehr Deutschlands zum unbeschränkten U-Boot-Krieg und der Veröffentlichung des «Zimmermann-Telegramms» war an die Aufrechterhaltung der amerikanischen Neutralität nicht mehr ernsthaft zu denken. Deutschland wies sogar Wilsons Bitte, ohne besondere öffentliche Erklärung den amerikanischen Schiffsverkehr nach England passieren zu lassen, brüsk zurück, und bereits im Februar wurden die ersten amerikanischen Handelsschiffe durch deutsche Unterseeboote versenkt. So blieb dem Präsidenten nichts anderes übrig, als den letzten Schritt zu tun: Am 2. April bat er die beiden Häuser des Kongresses, der Kriegserklärung an das Deutsche Reich zuzustimmen, was vier Tage später geschah. 82 Senatoren und 373 Mitglieder des Repräsentantenhauses stimmten dafür, 6 Senatoren und 50 Mitglieder des Repräsentantenhauses dagegen. Die Kriegserklärung an Österreich-Ungarn erfolgte erst acht Monate später: am 7. Dezember 1917.
Wilsons Rede vom 2. April war eine der bedeutendsten seiner Präsidentschaft. Der gegenwärtige deutsche
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