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Geschichte des Westens

Geschichte des Westens

Titel: Geschichte des Westens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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Alternative zu stellen: entweder restlose Annahme des bolschewistischen Programms, obenan ein Friede ohne Annexionen, der sofortige Bruch mit den Ententeimperialisten und allen Imperialisten, oder Aufstand. Der Aufstand sei, wie schon Marx gewußt habe, eine Kunst. Deswegen gab Lenin detaillierte Anweisungen für die Durchführung dieser Aktion bis hin zur Besetzung des Telegrafen- und des Telefonamtes von Petrograd. Die Geschichte der russischen Revolution war dabei, in eine neue, ihre zweite Etappe einzutreten: Das den Bolschewiki klar zu machen, war der Zweck von Lenins Appell.
    Der theoretische Ertrag von Lenins unfreiwilligem Aufenthalt in Finnland war die Schrift «Staat und Revolution», die er im August und September 1917 zu Papier brachte und Anfang 1918 veröffentlichte. Die zentrale, gegen die «opportunistische» Sozialdemokratie gerichtete These lautete: «Ein Marxist ist nur, wer die Anerkennung des Klassenkampfes auf die Anerkennung der Diktatur des Proletariats erstreckt.» Lenin konnte sich bei diesem Verdikt auf Marx berufen, der in einem Brief vom März 1852 die Einsicht, daß der Klassenkampf notwendig zur Diktatur des Proletariats führe und diese Diktatur selbst nur den Übergang zur Aufhebung aller Klassen und zu einer klassenlosen Gesellschaft bilde, zum Kernbestand seiner Theorie gerechnet hatte. Ein anderer Kronzeuge Lenins war Friedrich Engels, der 1891 in seiner Einleitung von Marx’ Schrift «Der Bürgerkrieg in Frankreich» die Pariser Kommune als die Verwirklichung der «Diktatur des Proletariats» bezeichnet hatte.
    Für Marx war die Entscheidung der Kommune, die Trennung von gesetzgebender und vollziehender Gewalt zugunsten einer einzigen «arbeitenden Körperschaft» aufzuheben und den Richtern ihre «scheinbare» Unabhängigkeit zu entziehen, ein großer historischer, ja ein revolutionärer Fortschritt. Auf dieses Urteil stützte Lenin seine Kampfansage an den «korrupten und verfaulten Parlamentarismus der bürgerlichen Gesellschaft». Die Diktatur des Proletariats definierte er als «die Organisierung der Avantgarde der Unterdrückten zur herrschenden Klasse zwecks Niederhaltung der Unterdrücker». Die Diktatur des Proletariats sei nicht eine einfache Erweiterung der Demokratie, sondern «Demokratismus für die Armen, für das Volk und nicht für die Reichen». «Demokratie für die riesige Mehrheit des Volkes undgewaltsame Niederhaltung der Ausbeuter, der Unterdrücker des Volkes, d.h. ihre Ausschließung von der Demokratie – diese Modifizierung erfährt die Demokratie beim
Übergang
vom Kapitalismus zum Kommunismus.»
    Der Zustand der Freiheit war damit aber noch nicht erreicht. «Solange es einen Staat gibt, gibt es keine Freiheit. Wenn es Freiheit geben wird, wird es keinen Staat geben.» Erst in der höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft konnte der Staat im Sinne der berühmten Formulierung von Engels «absterben» und die Verwaltung von Sachen und die Leitung von Produktionsprozessen an die Stelle der Regierung über Personen treten. Bis dahin mußte die tatsächliche und nicht nur formale Gleichheit erreicht, also die klassenlose Gesellschaft verwirklicht sein. «Welche Etappen die Menschheit auf dem Weg zu diesem höheren Ziel durchschreiten wird, welche praktischen Maßnahmen sie hierzu ergreifen wird, wissen wir nicht und können wir nicht wissen.» Was Lenin zu wissen glaubte, war etwas Näherliegendes: Die Zeit war reif für die Revolution des Proletariats, die in Rußland beginnen und dann die ganze Welt erfassen sollte.
    Das rückständige, immer noch überwiegend agrarisch geprägte Rußland als Avantgarde der proletarischen Weltrevolution: Das stand im krassen Widerspruch zu der Annahme von Marx und Engels, daß nur die Arbeiterklasse einer weitgehend industrialisierten Gesellschaft den Kapitalismus durch eine Revolution überwinden und eine sozialistische Gesellschaft aufbauen konnte. Lenin selbst war auch nach der Revolution von 1905 davon ausgegangen, daß Rußland ein kapitalistisches Entwicklungsstadium mitsamt einer bürgerlichen Demokratie nicht überspringen konnte. Im Sommer 1917 aber erklärte er die bürgerlich-demokratische Revolution für im wesentlichen abgeschlossen und behauptete in seinen «Aprilthesen» sogar, Rußland sei zur Zeit «von allen kriegführenden Ländern das freieste Land der Welt». Die Tatsache, daß die Bolschewiki nach dem Kornilow-Putsch in den Sowjets von Petrograd und Moskau die Mehrheit der Deputierten auf ihre

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