Geschichte des Westens
Seite gebracht hatten, reichte ihm aus, seine Partei zum Vollzugsorgan des Mehrheitswillens schlechthin zu erklären. Entscheidend war bei alledem sein Wille zur Macht: Er hielt die Voraussetzungen für einen bewaffneten Aufstand für gegeben,
weil
er entschlossen war, mit der von ihm für notwendig gehaltenen Revolution nicht länger zu warten.[ 5 ]
Während in Rußland das Zarenregime seine letzte Krise durchlebte, verschlechterte sich das Verhältnis zwischen dem Deutschen Reich und den Vereinigten Staaten dramatisch. Am 12. Dezember 1916 erklärte die deutsche Reichsleitung ihre Bereitschaft zu Friedensverhandlungen, ohne sich genauer zu ihren Vorstellungen von einer Nachkriegsordnung zu äußern. Der eigentliche Adressat der Erklärung war der amerikanische Präsident Woodrow Wilson, der wenige Wochen zuvor mit knapper Mehrheit wiedergewählt worden war. Wilson, von Berlin gebeten, die Ententemächte über die deutsche Initiative zu informieren, antwortete mit einer Aufforderung an alle kriegführenden Mächte, in eine Diskussion über einen Verhandlungsfrieden einzutreten.
Großbritannien, Frankreich, Italien und Rumänien legten daraufhin am 11. Januar 1917 ihre gemeinsamen Kriegsziele dar, darunter die Neuordnung Europas nach dem Nationalitätenprinzip, die Räumung aller besetzten Gebiete sowie Reparationen für die von den Gegnern verursachten Kriegsschäden. Im einzelnen forderten sie die Wiederherstellung Belgiens, Serbiens und Montenegros, die «Befreiung der Italiener, Slawen (gemeint wohl: Südslawen, H. A. W.), Rumänen und Tschechoslowaken von der Fremdherrschaft», die «Freiheit der Völker, die unter der grausamen Tyrannei der Türken stehen», und die «Verbannung des Osmanischen Reiches, das der abendländischen Kultur deutlich fremd gegenübersteht», aus Europa. Die Mittelmächte wichen hingegen einer entsprechenden Klarstellung vorerst aus. Die deutsche Reichsleitung setzte in ihrer Antwortnote vom 26. Dezember 1916 Washington überdies davon in Kenntnis, daß sie eine Beteiligung des amerikanischen Präsidenten an den eigentlichen Friedensverhandlungen nicht wünschte. Von einer Bereitschaft, über eine Beendigung der Kämpfe zu verhandeln, konnte bei keinem der beiden verfeindeten Lager die Rede sein.
Wilson ließ sich dadurch nicht entmutigen. In einer Rede vor dem Senat entwickelte er am 22. Januar 1917 seine Gedanken von einer künftigen Friedensordnung. Sein Ziel war kein geringeres, als Frieden und Gerechtigkeit in der ganzen Welt durchzusetzen und zu ihrer Sicherung einen internationalen Friedensbund (League for Peace) ins Leben zu rufen. «Nur ein friedliches Europa kann ein stabiles Europa sein. Es darf dort kein Gleichgewicht der Macht, es muß eine Gemeinschaft der Macht (not a balance of power, but a community of power)geben, nicht organisierte Rivalitäten, sondern einen organisierten gemeinsamen Frieden.» Voraussetzung hierfür war ein «Friede ohne Sieg» (a peace without victory). «Kein Friede kann oder sollte Bestand haben, der nicht den Grundsatz anerkennt, daß Regierungen alle ihre rechtmäßigen Machtbefugnisse aus der Zustimmung der Regierten (consent of the governed) beziehen und es nirgendwo ein Recht gibt, Völker von einer Souveränität zur anderen weiterzureichen, als wären sie Besitztümer.» Eine ebenso hohe Bedeutung maß Wilson der Freiheit der Meere und der Begrenzung der Rüstungen bei. Dies alles seien amerikanische Prinzipien und Praktiken, aber zugleich die aller nach vorn blickenden Menschen jeder modernen Nation und aufgeklärten Gemeinschaft. «Es sind die Prinzipien der Menschheit, und sie werden sich behaupten.»
«Noch nie zuvor hat eine Versammlung eine so wunderbare Predigt darüber gehört, was menschliche Wesen zu erreichen fähig wären – wenn sie nur nicht menschlich wären»: So lautete der sarkastische, natürlich nicht öffentliche Kommentar des französischen Politikers Georges Clemenceau zur Rede des amerikanischen Präsidenten. Das Programm des Demokraten Wilson klang in der Tat überaus idealistisch. Das entsprach nicht nur seinem Denken, er konnte auch kaum anders reden, wenn er die Zustimmung der Amerikaner gewinnen wollte. In Europa sprach die Rede allen aus dem Herzen, die auf die Selbstbestimmung ihrer Völker hinarbeiteten – gleichviel, ob diese österreichisch-ungarischer, deutscher, türkischer oder russischer Herrschaft unterworfen waren. Die Regierungen Großbritanniens und Frankreichs hatten zwar nicht die
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